Seit Monaten beklagen Schulleitungen in ganz Deutschland, dass es zunehmend schwierig wird, geflüchtete Kinder und Jugendliche an Schulen aufzunehmen. Vielerorts fehlen Lehrkräfte und es sei oftmals schwierig, neue Schüler*innen zeitnah in die richtigen Klassen einzuteilen. Gerade seit der Aufnahme vieler geflüchteter Schüler*innen aus der Ukraine, mussten in einigen Bundesländern Kinder und Jugendliche mehrere Monate auf einen Schulplatz warten.
Der MEDIENDIENST hat bei den Bildungsministerien der Länder nachgefragt, wie die Situation zu Beginn des neuen Schuljahrs aussieht. Das Ergebnis: Die meisten berichten, dass die Lage schwierig sei. Im Laufe des Jahres konnten aber Wartelisten deutlich reduziert, Personal eingestellt und pädagogisches Angebot erweitert werden.
Wie viele geflüchtete Kinder und Jugendliche gehen zur Schule?
Genaue Angaben darüber, wie viele geflüchtete Kinder in Deutschland eine Schule besuchen, gibt es nicht. In diesem Jahr (Januar-Juli) haben knapp 20.000 junge Geflüchtete im schulpflichtigen Alter (6-16 Jahren) zum ersten Mal einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Sie kommen zu den rund 613.000 Schutzsuchenden im schulpflichtigen Alter hinzu, die Ende 2022 in Deutschland lebten – darunter rund 234.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine.
Laut Angaben der Kultusminister*innenkonferenz wurden zu Anfang August 2023 etwa 213.000 Schüler*innen aus der Ukraine an deutschen Schulen aufgenommen, die meisten in Nordrhein-Westfalen (rund 41.000 Schüler*innen), Baden-Württemberg (rund 32.000) und Bayern (30.000).
Ukrainer*innen waren 2023 die größte Gruppe unter den neuen Schüler*innen: In Nordrhein-Westfalen kommen mehr als 40 Prozent aller Schüler*innen in sogenannten Erstförderung-Klassen aus der Ukraine. In Rheinland-Pfalz machen sie fast 60 Prozent aller neu eingeschulten geflüchteten Schüler*innen aus.
Ab wann können geflüchtete Kinder und Jugendliche zur Schule gehen?
Geflüchtete Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter haben in Deutschland das Recht sowie die Pflicht, eine Schule zu besuchen. Das gilt für Kinder, deren Familien einen Asylantrag gestellt haben sowie für Geduldete und anerkannte Flüchtlinge. In der Regel gilt die Schulpflicht für geflüchtete Kinder und Jugendliche nachdem sie einen festen Wohnsitz haben – und nicht mehr in Erstaufnahmeeinrichtungen wohnen. Unterricht gibt es auch in vielen Erstaufnahmeeinrichtungen. Laut Artikel 14 der EU-Aufnahmerichtlinie muss der Zugang zum Bildungssystem spätestens drei Monate nach Einreise erfolgen.
Gibt es genug Schulplätze?
Fast alle Bildungsministerien der Länder teilen auf Anfrage mit, dass es aktuell Schwierigkeiten bei der Einschulung von geflüchteten Kindern gibt. Bereits im November 2022 hatte eine Befragung im Auftrag des Schulbarometers der Robert Bosch Stiftung ergeben, dass mehr als die Hälfte der befragten Schulleiter*innen keine Kapazitäten mehr zur Aufnahme weiterer geflüchteter Schüler*innen an ihrer Schule sahen.
Der Bedarf nach Schulplätzen ist hoch: Das Bildungsministerium in Baden-Württemberg teilt zum Beispiel mit, dass es in diesem Jahr einen "nie dagewesenen Zuwachs" der Schüler*innen an Grundschulen gibt. Auch in Schleswig-Holstein ist die Zahl der neuen Schüler*innen gestiegen – besonders an Grundschulen.
In Hamburg und Berlin wird erwartet, dass viele (vor allem ukrainische) Schüler*innen bald in Regelklassen wechseln werden und dann Plätze in Willkommensklassen frei werden.
Müssen neue Schüler*innen lange auf einen Schulplatz warten?
Trotz der steigenden Flüchtlingszahlen betonen alle Bildungsministerien auf Anfrage, dass sie dafür sorgen, dass jedes Kind zeitnah einen Schulplatz bekommt. In Berlin und Nordrhein-Westfalen müssen Kinder und Jugendliche besonders lange auf einen Schulplatz warten.
- In Nordrhein-Westfalen konnte die Zahl der Kinder und Jugendliche, die auf einen Schulplatz warten, im Laufe des Jahres von 8.500 auf rund 2.500 Personen reduziert werden (Stand: Mai 2023). 1.810 von ihnen hatten bereits ein Beratungsgespräch und sollen bald eingeschult werden.
- In Berlin befanden sich insgesamt 1.120 Kinder und Jugendliche auf Wartelisten für Schulplätze (Stand: 11.07.2023).
- In Thüringen wurden rund 300 Kinder und Jugendliche noch nicht an Schulen vermittelt (Stand: August 2023), da sie noch nicht einer bestimmten Stufe zugeordnet werden konnten.
- Kurze Wartezeiten gibt es laut Angaben des Bildungsministeriums vereinzelt auch in Baden-Württemberg.
Mehrere zuständige Ministerien der Länder weisen darauf hin, dass nahezu wöchentlich neu ankommende geflüchtete Kinder und Jugendliche eingeschult werden müssen. Die Situation variiere sehr stark von Bundesland zu Bundesland – und von Region zu Region: In Ballungszentren in den Städten sei es etwa deutlich schwieriger, Schulplätze zu vermitteln als in ländlichen Regionen, so das Bildungsministerium aus Sachsen.
Für Natalia Rösler vom Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen gibt es besonders beim Schulwechsel Probleme – etwa, wenn geflüchtete Schüler*innen aus der Grundschule in weiterführende Schulen wechseln: "Kinder, die auf weiterführende Schulen sollten, warten manchmal mehrere Monate lang zuhause und haben nichts gemacht, weil man nicht wusste, wohin mit ihnen". Das habe Rösler besonders in Berlin und Nordrhein-Westfalen beobachtet.
Sehr lange Wartezeiten gibt es auch für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – besonders in Berlin. Da unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erst nach dem sogenannten Clearing-Verfahren eingeschult werden können, ist die Wartezeit für sie oftmals länger als ein halbes Jahr.
Wie werden geflüchtete Kinder eingeschult?
Prinzipiell gibt es in Deutschland drei Modelle zur Einschulung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen:
- Einschulung direkt in Regelklassen mit Deutschintensiv- und Förderkursen, so etwa in Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland,
- Einschulung in Vorbereitungsklassen oder sogenannte "Deutsch als Zweitsprache"-Klassen (DaZ) in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein.
- Einschulung in gesonderte Lerngruppen oder Deutsch-Intensivkurse parallel zum Regelunterricht in bestimmten Fächern in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen.
In Bayern gibt es sowohl Deutschklassen an Grund- und Mittelschulen, als auch Regelklassen mit begleitenden Fördermaßnahmen. Ab der 5. Klasse werden die Schüler*innen in sogenannten Brückenklassen unterrichtet, die eine schnelle Integration im Regelunterricht ermöglichen sollen.
In einigen Bundesländern gibt es auch Bildungsangebote auf Ukrainisch: In Rheinland- Pfalz können Schüler*innen in den Klassen 1-10 für drei bis fünf Wochenstunden den Herkunftssprachenunterricht auf Ukrainisch besuchen. In Hessen gibt es Kurse zu "Sprach- und Kulturvermittlung in ukrainischer Sprache".
Gibt es genug Lehrer*innen?
Schulleitungen und Schulpersonal arbeiten vielerorts an der Grenze ihrer Kapazitäten. Laut einer Befragung des Deutschen Philologenverbands Anfang 2023 gaben mehr als 80 Prozent der befragten Schulleitungen an, dass sie kein zusätzliches Personal zur Betreuung einstellen konnten. Knapp 20 Prozent gaben an, dass bei ihnen Teilzeitlehrkräfte ihre Arbeitsstunden erhöht haben, um ukrainische Schülerinnen und Schüler zu beschulen. 30 Prozent erklärten, dass an ihren Schulen ukrainische Lehrkräfte eingestellt wurden, um ukrainische Geflüchtete zu beschulen.
Inzwischen haben die meisten Bundesländer Maßnahmen ergriffen, um Lehrkräfte und Schulpersonal aufzustocken.
- In Baden- Württemberg wurden seit Beginn des Krieges in der Ukraine für die Beschulung geflüchteter Kinder und Jugendlicher mehr als 1.100 neue Personen befristet beschäftigt. Es gibt zudem "Unterstützungslehrkräfte", die zum Beispiel Sprachkurse anbieten oder mit Geflüchteten arbeiten.
- In Bayern wurden zum Schuljahr 2023/24 1.150 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen. Zur Unterstützung bei der Beschulung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine hat der Freistaat zudem 1.620 Vollzeitäquivalente zur Verfügung gestellt.
- In Hessen wurden 300 Lehrkräfte und Personen mit pädagogischer Erfahrung an Schulen eingestellt (Stand: März 2023).
- In Niedersachsen wurden 378 Personen mit ukrainischem Hintergrund zusätzlich in Schulen eingestellt, 30 als Lehrkräfte, 348 als pädagogische Mitarbeiter*innen.
- In Nordrhein-Westfalen sind im Haushalt 2022/2023 4.314 zusätzliche Stellen zur "Sicherstellung der Unterrichtsversorgung geflüchteter Schülerinnen und Schüler" vorgesehen. Knapp 1.500 Personen wurden befristet eingestellt, 108 davon mit ukrainischer Staatsangehörigkeit.
- In Rheinland- Pfalz wurden vergangenes Schuljahr 750 Planstellen sowie finanzielle Mittel für 100 Vollzeitstellen finanziert. Für das Schuljahr 2023/2024 wurden diese auf weitere 330 Stellen und 190 zusätzliche Besetzungsmöglichkeiten erweitert. Seit Beginn des Ukrainekrieges sind auch 150 Lehr- und Betreuungskräfte aus der Ukraine beschäftigt.
- In Sachsen wurden nach Kriegsausbruch 140 zusätzliche Lehrkräfte eingestellt. Sie werden in diesem Schuljahr unbefristet weiterbeschäftigt. Außerdem werden 495 Pädagogen und Assistenzkräfte befristet beschäftigt und in Vorbereitungsklassen eingesetzt.
- In Schleswig-Holstein wurde das Lehrpersonal um 751 Stellen erweitert. Darunter sind 137 Lehrkräfte aus der Ukraine, die als Unterstützungskräfte in "Deutsch als Zweitsprache"-Klassen arbeiten werden.
Von Arbnora Kadriu und Fabio Ghelli
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