Die Situation auf den griechischen Inseln ist sehr angespannt: Flüchtlinge leben in überfüllten Einrichtungen, in denen oft existenzielle Dinge wie Trinkwasser fehlen. Viele Geflüchtete wissen zudem nicht, ob und wann sie abgeschoben werden. Es ist daher kein Wunder, dass es zu Ausschreitungen kam. Die Proteste vom 19. September waren nicht die ersten: Bereits Anfang April brachen in den Hotspots von Lesbos und Chios Tumulte aus. Unter den vorherrschenden Bedingungen ist es sehr wahrscheinlich, dass es demnächst auch in den anderen Hotspots zu Aufständen kommen wird.
Das ist eines der zentralen Erkenntnisse, die unser Forscherteam im Rahmen des Projekts "De- und Restabilisierung des Europäischen Grenzregimes" zwischen Februar und August 2016 auf verschiedenen Ägäis-Inseln nahe der türkischen Küste gewinnen konnte.
Das Hotspot-System funktioniert nicht
Um die Registrierung aller ankommenden Flüchtlinge zu sichern, hat die Europäische Kommission nach den Plänen der Migrationsagenda vom Mai 2015 sogenannte Hotspots in Griechenland und Italien eingerichtet. Das System sieht Folgendes vor: Ankommende Flüchtlinge durchlaufen zunächst das „First Reception Screening“, in dem sie von der griechischen Polizei und Frontex-Mitarbeitern identifiziert und registriert werden. In dieser Phase werden sie auch gefragt, ob sie einen Asylantrag stellen wollen. Das Registrierungsverfahren dauert nur wenige Stunden.
BERND KASPAREK ist Mitglied des Forschungs-Projekts Bordermonitoring, das die Lebens-Bedingungen von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen untersucht. Im Rahmen des Projekts "De- und Restabilisierung des Europäischen Grenzregimes" der Fritz Thyssen Stiftung hat er für ein halbes Jahr die Situation in den Hotspots auf den griechischen Inseln beobachtet. Er promoviert derzeit zum Thema Grenzsicherheit.
Einige Tage später findet ein längeres Interview mit der griechischen Asylbehörde und dem Europäischen Asylunterstützungsbüro (EASO) statt, bei dem vor allem geprüft wird, ob ein Asylantrag zulässig ist. Registrierung und Zulässigkeitsprüfung waren ursprünglich die Hauptaufgaben der Hotspots. Im Zuge des EU-Türkei-Deals wurde das System jedoch stark revidiert: Die Hotspots sortieren die ankommenden Flüchtlinge in mehrere Gruppen. Syrerinnen und Syrer sollen nun in die Türkei zurückgeführt werden, um dort ihren Asylantrag zu stellen. Asylsuchende anderer Nationalität müssen lange auf die Bearbeitung ihres Antrags warten, bei konstant niedrigen Anerkennungsquoten.
Nur "besonders schutzbedürftige Personen" werden von den Hotspots auf das griechische Festland gebracht. Dort können sie beantragen, in einen anderen EU-Mitgliedstaat verteilt zu werden. Zu den "besonders Schutzbedürftigen" gehören Minderjährige, Schwangere, Alleinerziehende oder Menschen mit Behinderung, Opfer von Gewalt oder Verfolgung und Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung.
Zwischen Januar und September 2016 kamen in Griechenland 163.000 Geflüchtete an. Von ihnen wurden 643 Menschen zurück in die Türkei überführt (Stand: 7. Oktober 2016). Auf die EU-Mitgliedstaaten wurden hingegen 4.600 Flüchtlinge verteilt (Stand: 7. Oktober 2016). Diese Zahl ist sehr gering – vor allem wenn man bedenkt, dass nach den Plänen der EU-Kommission zwischen 2015 und 2017 rund 160.000 Geflüchtete aus Griechenland und Italien auf die anderen Mitgliedstaaten umverteilt werden sollten.
14.000 Flüchtlinge auf den griechischen Inseln gestrandet
Seitdem der EU-Türkei-Deal in Kraft getreten ist, wird die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland stark überwacht. Die Zahl der Ankünfte auf den griechischen Inseln ist in der Folge zurückgegangen. Es kommen aber weiterhin Flüchtlinge: Allein im August 2016 waren es rund 3.500 Menschen.
Die Flüchtlingsbevölkerung auf den Inseln wächst, die Aufnahmestrukturen sind systematisch überfüllt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks gab es im September fast doppelt so viele Flüchtlinge auf den Ägäischen Inseln wie Schlafplätze. In ganz Griechenland sind derzeit mehr als 60.000 Flüchtlinge gestrandet – etwa ein Viertel von ihnen auf den Inseln.
Die lokalen Ressourcen stoßen an ihre Grenzen: In den meisten Hotspots musste das Wasser rationiert werden, um die Reserven nicht komplett aufzubrauchen. Auch die weiter angespannte wirtschaftliche Situation in Griechenland macht eine Integration der Flüchtlinge schwierig. Viele Schutzsuchende hoffen weiterhin, dass sich die Grenzen auf dem Balkan wieder öffnen und es möglich sein wird, nach Deutschland zu reisen. Nur sehr wenige möchten in Griechenland bleiben.
Es ist zu vermuten, dass sich die Situation von alleine nicht entspannen wird. Die Gefahrenlage, die unser Forschungsteam auf den griechischen Inseln dokumentiert hat, ist die Folge eines strukturellen Fehlers im Aufnahmesystem: Die Hotspots waren ursprünglich dafür gedacht, Flüchtlinge schnell zu registrieren. Aufgrund des EU-Türkei-Deals sind sie jedoch zu Internierungslagern geworden. Die Hotspots sollten eine schnelle Verteilung der Flüchtlinge ermöglichen. Der EU-Türkei-Deal soll hingegen die Flüchtlingsmigration anhalten.
Die Idee, Geflüchtete zentral zu registrieren hat große Vorteile, denn das Aufnahmesystem kann dadurch besser koordiniert werden – auch im Hinblick auf die Bedürfnisse der Asylsuchenden. Insofern ist das Hotspot-System sinnvoll. Durch den EU-Türkei-Deal wurde das System jedoch de facto lahmgelegt. Wenn die Europäische Kommission das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) voranbringen will, gibt es nur eine Möglichkeit: Den EU-Türkei-Deal zu kündigen.
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