Am 20. Dezember 1955 wurde das Anwerbeabkommen zwischen Italien und Deutschland unterschrieben, das den Beginn der Rekrutierung von Arbeitsmigranten aus Mittelmeerländern markiert. 1957 folgten die Römischen Verträge, welche die Freizügigkeit für die Bürger Italiens und anderer Länder einführten und die man als Auftakt für die Schaffung der Europäischen Union bezeichnen kann. Mittlerweile lebt in Deutschland eine zweite und dritte Generation "Italo-Deutscher" mit hybriden Identitäten. Im Jahr 2013 zählte das Statistische Bundesamt 783.000 Personen mit italienischem Migrationshintergrund in Deutschland, 423.000 davon hatten selbst Migrationserfahrungen gemacht. Außerdem nimmt die Einwanderung italienischer Staatsbürger nach Deutschland seit einiger Zeit zu: So ist die Zahl der nach Deutschland zugezogenen Italiener zwischen 2011 und 2014 um 55.000 und damit um fast 15 Prozent gestiegen.
Darunter sind nicht nur junge, alleinstehende Akademiker, sondern auch viele Migranten mit mittlerem Schulabschluss und solche, die mit ihrer Familie migrieren. Wie in der Vergangenheit spielen auch bei den Neuzuwanderern die sozialen Netzwerke eine wichtige Rolle. Dabei handelt es sich heute aber häufig um "virtuelle" Netzwerke beziehungsweise "virtuelle Binnenkolonien", die Informationen liefern und eine erste Orientierung ermöglichen. Allerdings ist auch bei diesen modernen Netzwerken zu beobachten, dass sie häufig einengend wirken, die Personen sich also vorwiegend in diesen sozialen Netzwerken bewegen und dort "hängenbleiben".
Waren in den Fünfzigerjahren Italiener mit Abwehr und Vorurteilen konfrontiert, sind sie inzwischen als Träger von "Dolce Vita" und "Italian Lifestyle" symbolisch akzeptiert. Diese Klischees, nach denen zum Beispiel bestimmte Berufe in der Gastronomie als "typisch italienisch" gelten, können sich jedoch sowohl für die zweite und dritte Generation als auch für die Neuzwanderer als hemmend und hinderlich für den beruflichen Aufstieg erweisen.
Dr. EDITH PICHLER ist Dozentin für Soziologie am Institut für Wirtschafts- und Sozialwissen-schaften der Universität Potsdam. Zuvor war sie Visiting Professor an der Universität La Sapienza in Rom. Sie forscht zu Migration, Ethnizität und Erinnerungskulturen in Deutschland und Italien. Seit 2013 berät sie als Expertin u.a. das italienische Außenministerium.
Mit der Auswanderung aus der Heimat verband die Gastarbeitergeneration eine Verbesserung der Lebensperspektiven ihrer Kinder, also einen Aufstieg in einen Angestelltenberuf, einen sogenannten "white-collar-job". In der Tat zeigen die Daten, dass die meisten Italiener inzwischen im Dienstleistungssektor arbeiten, nämlich 69 Prozent, und nicht mehr in der Industrie, wo etwa 32 Prozent tätig sind.
Allerdings ist der erwünschte "white collar" nicht selten der weiße Kragen eines Kellners oder Händlers, da Gastronomie und Handel mit rund 16 beziehungsweise 14 Prozent die wichtigsten Branchen sind, in denen Italiener sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Gleichwohl gibt es natürlich italienische Migranten, die erfolgreich den Zugang zu verschiedenen Branchen gefunden haben und als Ärzte, Journalisten, Regisseure oder als Unternehmer arbeiten.
Eine Besonderheit unter den italienischen Einwanderern ist die geringe Beschäftigungsbeteiligung von Frauen, die mit rund 35 Prozent vergleichsweise niedrig ist im Vergleich zu Migranten aus anderen EU-Staaten. Hier sind regionale Unterschiede zu beobachten, die mit der generellen Arbeitsmarktsituation, aber auch mit der Besonderheit der jeweiligen Migranten-Community zu tun haben. So gibt es in Berlin die höchste Beschäftigungsbeteiligung unter italienischen Migrantinnen. Dorthin kamen Frauen häufig eigenständig und allein als "Gastarbeiterinnen".
Zwischen Klischee und Wirklichkeit
Die Bevölkerung mit sogenanntem italienischem Migrationshintergrund war wie andere Einwanderer mit verschiedenen Migrationsdiskursen und -konzepten konfrontiert: von der Assimilation zum Multikulturalismus bis zum heutigen Konzept der Teilhabe. Aber wie steht es mit der Teilhabe im Bildungssystem? Hier schnitten italienische Schüler lange schlecht ab und waren vom selektiven Schulsystem überdurchschnittlich stark betroffen. Es ist zu hoffen, dass die etwa 6.000 Schüler aus Italien, die in den letzten beiden Jahren nach Deutschland gekommen sind, auf eine Willkommenskultur und -struktur treffen und ihre Leistungen verbessern können – ohne in Sonderklassen separiert zu werden und mit der Chance auf eine gleichberechtigte Teilhabe.
Als EU-Bürger haben die in Deutschland ansässigen erwachsenen Italiener weitere Teilhabemöglichkeiten: Sie verfügen über das aktive und passive Wahlrecht, allerdings nur auf kommunaler Ebene. Eine weitergehende Teilhabe bleibt vielen versagt, da die Zahl der Einbürgerungen gering ist und eine Einbürgerung die Voraussetzung ist für ein Wahlrecht auch auf Länder- und Bundes-Ebene. Im Jahr 2013 gab es etwa 3.000 Einbürgerungen. Man kann deshalb auch von einem "diritto bloccato" sprechen, einem "blockierten Recht". Damit ist nicht nur der Zugang zu Bundes- und Landtagswahlen eingeschränkt, sondern auch die politische Repräsentation: Die wenigen gewählten Politiker mit italienischem Hintergrund sitzen in den Kommunen, sind daher überregional kaum bekannt und prägen die politischen Debatten nicht mit. Man kann sich nicht an ihnen reiben. Dank "italienischer" Marken wie Mirácoli oder Armani sind Italiener und "ihre Kultur" Teil des Alltags geworden und zu einer Projektionsfläche für das "Gutschmeckende und Geschmackvolle". Und dieser Alltag wird nur sehr selten gestört.
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