In Deutschland leben 65.000 Kinder mit unsicherem Aufenthaltsstatus: Sie werden entweder geduldet oder sind Asylsuchende. Mehr als die Hälfte von ihnen sind mit ihren Familien nach Deutschland geflohen, bei den anderen handelt es sich um „unbegleitete minderjährigen Flüchtlinge“. Eine Studie, die der „Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge“ in Auftrag von UNICEF erstellt hat, untersucht ihre Situation näher.
Bei der Vorstellung der Studie in Berlin betont Anne Lütkes, Vorstandsmitglied bei UNICEF: "Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet, Kinder und Jugendliche besonders zu schützen. Das gilt auch für Flüchtlinge. In der Praxis setzt sich dieser gesetzliche Anspruch aber nur wenig durch." Im Asylverfahren, beim Wohnen, beim Zugang zu Bildung und zu medizinischer Versorgung werden die Flüchtlingskinder der Studie zufolge in Deutschland benachteiligt.
Unter 16-Jährige werden, sofern sie nicht alleine geflohen sind, im Asylverfahren zusammen mit ihren Eltern erfasst. Oftmals machen die Eltern von dem Recht Gebrauch, auf die individuelle Befragung ihrer Kinder zu verzichten, um sie zu schonen. Aber gerade Babys und Kleinkinder sind häufig dabei, wenn ihre Eltern über erlebte Verfolgung oder Gewalt befragt werden, weil es keine geregelte Betreuung in den Behörden gibt. Das kann die Kinder unter enormen Stress setzen.
"Erwachsen" nach geltendem Asylrecht
Ab ihrem 16. Geburtstag gelten Flüchtlinge dem Asylgesetz zufolge als Erwachsene. Dementsprechend werden sie einzeln befragt und es ist möglich, dass die Ausländerbehörde ihre Aussagen denen ihrer Eltern gegenüberstellt, um ihre Glaubhaftigkeit zu prüfen. Jugendliche ohne Angehörige hingegen haben kein Recht auf einen Vormund und müssen das Asylverfahren unter Umständen allein durchlaufen. Die Bundesregierung hat eine Änderung des Alters im Koalitionsvertrag festgehalten, was bislang aber noch nicht umgesetzt wurde. Mit der Änderung würden Jugendliche bis zu ihrem 18. Lebensjahr als Minderjährige unter besonderem Schutz stehen, so wie es die UN-Kinderrechtskonvention vorsieht.
Gemeinschaftsunterkünfte, die kaum Privatsphäre zulassen, bestimmen der Studie zufolge zum Teil über Jahre das Leben der Flüchtlingskinder. Häufig erleben sie diese Wohnsituation als sehr unangenehm und laden deshalb beispielsweise keine Schulfreunde zu sich ein. Medizinische Versorgung erfolgt für Asylbewerber und ihre Kinder nur bei „akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen". Zudem ist für jede Untersuchung zunächst ein Behördengang nötig. Dies kann laut Thomas Berthold, dem Autor der Studie, dazu führen, dass Kinder unzureichend oder zu spät behandelt werden. Unter Umständen hat das gefährliche Folgen: Wie im „Fall Leonardo“ als ein 15 Monate alter Jungen beinahe an einer Infektion gestorben wäre, weil die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Asylbewerberunterkunft zunächst die Hilfe verweigerten.
Kinder als „Integrationsmittler“
Grundsätzlich haben Kinder, die geflohen sind, wie alle anderen Kinder in Deutschland das Recht auf einen Kita- und Schulplatz. Darüber, wie viele von ihnen tatsächlich diese Einrichtungen besuchen, liegen jedoch keine deutschlandweiten Daten vor. 2013 haben etwa in Berlin von 861 Flüchtlingskindern unter sechs Jahren, die in Sammelunterkünften lebten, nur 50 eine Kita oder Tagesmutter besucht. Autor Thomas Berthold zufolge müssten Kinder oft drei bis sieben Monate auf einen Schulplatz warten, da nicht genügend Plätze zur Verfügung stünden. Zudem fehle es an passenden Sprachlernangeboten. Für Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren sei es besonders schwierig, eine Schule zu finden, die sie aufnimmt. Das ist problematisch, da der Schulabschluss Voraussetzung für jede weitere Ausbildung ist.
Werden Schule oder Kita jedoch besucht, lernen die Kinder oft schneller Deutsch als ihre Eltern und fungieren so als „Integrationsmittler“. Damit übernehmen sie eine Rolle, die ihrem Alter jedoch oft nicht angemessen ist. Sie erleben ihre Eltern in der Umgebung als hilflos und fühlen sich teilweise für die Aufenthaltssicherung der gesamten Familie verantwortlich. Diese neue Rolle als „Stütze der Familie“ kann die Kinder überfordern. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, dass das Familiengefüge belastet wird, wenn die Kinder schneller als ihre Eltern „ankommen“ und sich so zu entfremden drohen, wie eine ältere Studie nachweist.
Christoph Strässer, der Bundesbeauftragte für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, forderte bei der Vorstellung der UNICEF-Studie in Berlin eine öffentliche Diskussion, um minderjährigen Flüchtlingen in vollem Umfang den gesetzlichen Zugang zu sozialen Regelleistungen und Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Bei allen Mängeln gebe es jedoch auch Engagement für Flüchtlingskinder von staatlicher und vor allem von zivilgesellschaftlicher Seite.
Von Jenny Lindner
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