MEDIENDIENST: Wie bewerten Sie die jetzt erreichte Entscheidung 160.000 Flüchtlinge, die sich bereits in der EU befinden, per Quote auf die Mitgliedstaaten zu verteilen?
Dr. Steffen Angenendt: Als Signal für die EU-Asylpolitik ist diese Entscheidung sehr positiv – und längst überfällig. Zugegeben, es handelt sich um eine relativ bescheidene Zahl von Menschen – vor allem im Anbetracht der Prognose von mehr als einer Million Flüchtlinge, die bis Ende des Jahres in die EU kommen sollen. Dennoch ist das ein Zeichen, dass die überwiegende Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten die Notwendigkeit einer Verantwortungsteilung erkannt hat.
Wird diese Verantwortungsteilung helfen, den aktuellen Notstand zu beseitigen?
Sie wird den Notstand nicht beseitigen können, aber zur Linderung beitragen. Zum einen betrifft sie, wie gesagt, relativ wenige Menschen. Zum anderen ist unklar, wann die tatsächliche Verteilung stattfindet. Einige Staaten, die gegen die Maßnahme gestimmt haben, wie Ungarn und die Slowakei, haben bereits klar gemacht, dass sie keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Es ist also nicht sicher, dass der Beschluss in allen EU-Ländern schnell und vollständig umgesetzt wird. Darüber hinaus besteht die zentrale Herausforderung nun darin, die beschlossene Quotenregelung zu verstetigen und als dauerhaftes System zu verankern.
Dr. STEFFEN ANGENENDT ist Senior Associate der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Er leitet dort die Forschungsgruppe "Globale Fragen". Zudem ist er Mitglied im Rat für Migration (RfM) und schrieb für den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) an einem Policy-Brief zur Verteilung von Flüchtlingen in der EU mit.
Eine EU-Verteilungsquote, die auf Bevölkerung und Wirtschaftskraft eines Landes basiert, haben Sie und der SVR-Forschungsbereich bereits im Jahr 2013 vorgeschlagen. Entspricht der aktuelle Verteilungsplan ihren Vorstellungen?
Ja, unser damaliger Vorschlag wurde jetzt fast komplett übernommen. Dabei muss man aber sagen, dass er sich vor allem auf die Frage konzentriert hat, wie die EU-Staaten zu einer Debatte darüber kommen, was unter einer „fairen“ Verantwortungsteilung zu verstehen ist. Darum ging es uns in erster Linie, und wir hielten und halten immer noch die Debatte über einen Verteilungsschlüssel für die beste Gelegenheit, darüber zu sprechen, was „fair“ bedeuteten soll und wie das gemessen werden kann. Wir hatten uns damals bewusst bei der Frage zurückgehalten, wie denn der Schlüssel angewendet werden soll, ob für eine Verteilung der Flüchtlinge oder für einen finanziellen Ausgleich. Persönlich bin ich der Meinung, dass eine Umverteilung eventuell in Zeiten einer krisenhaften Massenzuwanderung als vorübergehende Maßnahme notwendig sein kann, dass aber generell ein finanzieller Ausgleich – oder sogar ein Anreiz – sehr viel wirksamer, nachhaltiger und humaner wäre.
Wenn ein Flüchtling, der Verwandte in Deutschland hat, aufgrund der Verteilungsquote nach Estland geschickt werden sollte, ist es nicht zu erwarten, dass er oder sie irgendwann nach Deutschland reisen wird?
Das ist nicht auszuschließen – und es wäre auch verständlich und eventuell sogar für die öffentlichen Kassen entlastend, wenn er oder sie die Unterstützung von Verwandten findet. Trotzdem wäre das ein Rechtsverstoß. Die Frage ist aber: Wie lange sollen Flüchtlinge an ihr Aufnahmeland gebunden bleiben? Schließlich geht es darum, sie möglichst schnell in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren und ihnen Teilhabe zu ermöglichen. Im Integrationsprozess spielen Verwandte und Bekannte eine wesentliche Rolle. Der Vorschlag der Europäischen Kommission sieht vor, dass neben Verwandtschaftsverhältnissen auch berufliche Qualifikationen, Sprachkenntnisse und kulturelle Affinitäten bei der Umverteilung in Betracht gezogen werden. In jedem Fall wäre es im Interesse aller, das Verteilungssystem möglichst flexibel zu gestalten und geographische Präferenzen einzelner Flüchtlinge zu berücksichtigen. Vor allem müssen aber die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass einheitliche, menschenwürdige Mindeststandards bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen eingehalten werden.
Bedeutet dieser Beschluss das Ende des Dublin-Systems?
Das Dublin-System funktioniert schon seit langem nicht mehr – und zwar lange bevor die Bundesregierung die Verordnung für syrische Flüchtlinge ausgesetzt hat. Endlich wird dies auch von politischen Entscheidern so eingeschätzt. Inzwischen beobachten wir allerdings ein neues, besorgniserregendes Phänomen: Weil die Dublin-Verordnung ihre Wirkung verloren hat, werden wieder Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen eingeführt und das Schengener Abkommen zur EU-Freizügigkeit zumindest befristet ausgesetzt. Das ist unter bestimmten Bedingungen rechtens, darf aber nur kurzfristig erfolgen. Gefährlich für die EU wird es, wenn das systemisch und längerfristig erfolgt, und das ist leider nicht auszuschließen, wenn sich die EU nicht auf eine gemeinsame Asylpolitik einigen wird.
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben sich kürzlich auch darauf geeinigt, mehr Ressourcen in Entwicklungshilfe, Grenzischerung und Kontrolle an den Außengrenzen zu investieren. Wie wird sich die aktuelle Situation auf die Entwicklung der Asylpolitik in der EU auswirken?
Vor allem werden die Außengrenzen der EU immer stärker kontrolliert und dadurch weniger durchlässig. Das heißt, die Aufnahme von Flüchtlingen wird zunehmend in den Grenzregionen stattfinden: Dazu sollen diesseits der Grenze die „Hotspots“ in Griechenland, Italien und möglicherweise Bulgarien dienen. Jenseits der Grenze sollen gleichzeitig mithilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) Aufnahmelager entstehen, in denen Asylverfahren abgewickelt werden können. Wenn das System realisiert wird – nahezu geschlossene Grenzen und extraterritoriale Asylentscheidungen – wird der europäische Asylschutz zukünftig hauptsächlich im Resettlement bestehen, also in der freiwilligen Aufnahme von ausgewählten Flüchtlingen. Das wäre ein völlig anderes Asylsystem, als wir es heute haben.
Halten Sie die Errichtung von Flüchtlingslagern außerhalb der EU für realisierbar?
Das ist fraglich, denn die betreffenden Länder wissen ganz genau, dass sie dann eine große Zahl von Flüchtlingen wahrscheinlich dauerhaft im Land hätten. Letztlich lautet die Frage: Wird es dann noch einen substanziellen Flüchtlingsschutz in der EU geben, oder werden wir dann australische Verhältnisse haben?
Interview: Fabio Ghelli
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.