MEDIENDIENST Integration: Mehrere europäische Regierungen haben in letzter Zeit Maßnahmen gegen Schleuser eingeführt oder verstärkt. Zeigen die Wirkung?
David Suber: Man kann das angesichts unterschiedlicher Migrationsrouten, Grenzübergänge und Maßnahmen schwer verallgemeinern. Insgesamt würde ich sagen: nein. Die meisten Maßnahmen gegen Schleuser sind krachend gescheitert.
Warum?
Weil sie das falsche Ziel und die falschen Mittel haben. Der Grundgedanke hinter solchen staatlichen Maßnahmen – der Bau von Mauern, die Überwachung der Grenzen, Polizeipatrouillen – ist: Wenn man den Grenzschutz stärkt und Schmuggler ins Visier nimmt, werden die irregulären Grenzübertritte abnehmen. Aber all diese Maßnahmen verringern die Zahl der Grenzübertritte nur kurzfristig. Denn sie ändern ja nichts an den Gründen, warum Menschen migrieren. Und sie führen dazu, dass Menschen umso mehr auf die Dienste von Schmugglern zurückgreifen, weil sie es anders gar nicht mehr über die Grenzen schaffen.
Sie sagen, dass diese Grenzmaßnahmen nur eine kurzfristige Wirkung zeigen. Was passiert langfristig?
Wenn es wegen solcher Maßnahmen schwerer wird, über eine Grenze zu kommen, müssen sich Schmuggler anpassen, also ihr Angebot erweitern oder verbessern. Das bestätigt Forschung zu verschiedenen Grenzen und Migrationsrouten. Der langfristige Effekt ist daher die "Professionalisierung" von Schleusergruppen.
David Suber is Vorsitzender der Human Trafficking, Smuggling and Exploitation Recherchegruppe am Department of Security and Crime Science am University College London. Er betreibt seit mehreren Jahren Feldforschung zu Schleusern und hat dafür unter anderem auf der Balkanroute, in Bosnien, Serbien und in der Türkei Schmuggler und Geschmuggelte interviewt und beobachtet. Er hat Grenzbehörden in Italien, Großbritannien und der Türkei sowie verschiedene Migrantenorganisationen in der EU beraten. Im Moment ist er visiting fellow an der Unviersität Oxford.
Professionelle Schleusergruppen entstehen also geradezu wegen Maßnahmen gegen Schleusungen?
Schleusergruppen bestehen ja überhaupt nur, weil Menschen weiterhin ihre Länder verlassen müssen – und das gehen die EU-Staaten nicht an. Hingegen macht die Politik gegen Schleuser die Migrationsrouten gefährlicher – und Schleuser werden professioneller, um die Nachfrage der Menschen, die migrieren oder fliehen müssen, zu bedienen. Ich würde sagen, dass die Professionalisierung der Schmuggler eine unbeabsichtigte Folge der Politik der EU-Regierungen ist. Die scheitert also nicht nur an ihrem Ziel, irreguläre Migration einzudämmen, sondern sie verstärkt genau das, was sie eigentlich bekämpfen will.
Wie sieht die Professionalisierung von Schleusern aus?
Professioneller bedeutet nicht, dass sie krimineller agieren, sondern dass sie sich an die neuen Umstände anpassen und lernen, die härteren Grenzmaßnahmen zu umgehen. Einige Beispiele: Schleuser finden Kunden über Tik Tok und Telegram, sie spezialisieren sich auf eine bestimmte Grenze statt auf eine längere Route, sie arbeiten punktuell mit der lokalen organisierten Kriminalität zusammen oder bestechen Grenzbeamte. Oder sie finden einen Grenzabschnitt, der weniger kontrolliert wird. All das ist Teil der "Professionalisierung". Natürlich schaffen das nicht alle. Man kann daher schon sagen, dass Maßnahmen gegen Schleuser insofern erfolgreich sind, als dass sie "kleine Fische" abschrecken, also Schleuser, die sich an solche Maßnahmen nicht anpassen können.
Wer sind "die Schleuser"?
Die meisten machen das ad hoc. Oft sind es zum Beispiel Flüchtlinge oder Migranten, die selber gerade auf dem Weg in ein anderes Land sind. Die bekommen mit, dass sich aus dem Wissen über bestimmte Grenzen und Routen Geld machen lässt: Gegen ein Entgelt helfen sie dann anderen Flüchtlingen und Migranten, über bestimmte Grenzen zu kommen. Es ist ein Job voller Risiken und Stress. Ich habe viele Menschen interviewt, die spontan mit dieser Arbeit als Schmuggler begonnen haben, um etwas Geld zu verdienen. Manche machen dann weiter, weil sie realisieren, dass das die einzige möglich Einnahmequelle ist. Viele machen das, um ihren Familien zu Hause Geld zu schicken. Oder sie wollen selber Geld sparen, damit sie ein Visum beantragen können, um legal nach Europa zu gelangen. Denn sie wissen, dass der Weg nach Europa sehr gefährlich ist.
Schlepperbanden werden oft als organisierte Verbrecherbanden mit klaren Hierarchien beschrieben.
Dies ist nur selten der Fall. Solche Schmuggler-Gruppen sind eher lose, sie verändern sich ständig, Leute stoßen dazu, andere hören wieder auf. Schmuggler aus der Türkei schließen sich zum Beispiel mal mit Schmugglern in Griechenland zusammen, um eine Reise zu organisieren, arbeiten aber für die nächste Etappe mit anderen Schmugglern zusammen. Es handelt sich nicht um feste Strukturen, sondern um Gruppen, die sich ständig neu formieren.
Was ist mit großen Schmugglernetzwerken?
Die gibt es, aber die stellen eine kleine Minderheit dar. Es gibt einige größere Schmugglernetzwerke, die die Kontrolle über einen bestimmten Grenzabschnitt übernommen haben und dort keine anderen Schmuggler akzeptieren. Und es gibt einige wenige, die sich mit lokalen Gruppen der organisierten Kriminalität zusammentun, die Waren über die jeweilige Grenze schmuggeln. Die meisten empirischen Untersuchungen an verschiedenen Grenzen in der ganzen Welt zeigen aber, dass es nur minimale Kooperationen zwischen typischen Gruppen der organisierten Kriminalität und Schleusern gibt.
Wie viele Schmuggler gibt es – haben Sie irgendwelche Zahlen?
Nein, es gibt keine verlässlichen Zahlen oder Statistiken, da Schleusung ja eine versteckte und kriminalisierte Tätigkeit ist. Man könnte grob schätzen, indem man die Zahl der festgenommenen und wegen Schleusungsdelikten angeklagten Personen betrachtet. Die enthalten allerdings nur diejenigen, die entdeckt werden. Und, was noch wichtiger ist: Die meisten Personen, die in Europa wegen Schleusungsdelikten verhaftet werden, sind keine Schleuser, sondern Migranten und Asylbewerber. Die wurden etwa mit der Aufgabe betraut, ein Boot zu steuern, Auto zu fahren oder eine Gruppe durch den Wald zu führen. Die Leute, die das organisiert haben, werden nur sehr selten gefasst.
Viele der als Schleuser verdächtigten sind also selbst Flüchtlinge?
Genau. Polizeibehörden vieler EU-Länder wollen beweisen, dass sie "ihre Arbeit machen", indem sie Schleuser festnehmen. Sie wissen aber, dass das überhaupt nicht effektiv ist – sie wissen, dass die meisten Festgenommenen keine Schleuser sind. Sie wollen aber einen Erfolg in der Grenzsicherung nachweisen. Was das für die Menschen, die dabei inhaftiert werden, psychisch bedeutet – darauf nehmen sie keine Rücksicht. Und auf die Kosten für den Staat auch nicht.
Welche Rolle spielt das Thema Bestechung bei der Schleusung?
Bestechung findet überall statt. Ich habe an jeder Grenze, an der ich Feldforschung betrieben habe, Beweise dafür gefunden. Auch innerhalb Europas. Da ich weiterhin zu dem Thema forsche, kann ich nicht zu sehr ins Detail gehen. Generell kann ich sagen, dass Schmuggler darauf aus sind, Polizeibeamte auf ihrer Gehaltsliste zu haben. Denn das erhöht die Chance, dass die Reise reibungslos verläuft. Und genau das wollen die Schleuser erreichen. Sie werden meist als grausame Kriminelle dargestellt, die das Elend anderer Menschen ausnutzen. Sicherlich gibt es einige, die wissentlich Menschen unter gefährlichen Umständen auf die Reise schicken und die Boote überfüllen, ohne dabei moralische Bedenken zu haben. Meine Forschung zeigt aber, dass den meisten Schleusern ihr Ruf sehr wichtig ist. Denn nur so können sie auch zukünftig Kunden gewinnen. Ein Großteil des Schmuggels funktioniert über Empfehlungen und Vertrauen. Es ist unwahrscheinlich, dass man als Schmuggler Erfolg hat, wenn bekannt ist, dass man einen schlechten Service anbietet.
Der Bau von Mauern scheint derzeit in Mode zu sein – schreckt das Schmuggler ab?
Ich habe noch keinen einzigen Ort gesehen, an dem eine Mauer oder ein Zaun eine Grenze wirklich geschlossen hat. Natürlich verlangsamen Mauern die Grenzübertritte für eine gewisse Zeit, vor allem während des Baus – denn zu dieser Zeit sind tatsächlich Menschen an der Grenze. Insgesamt führen Mauern aber dazu, dass man Leitern braucht. In der Folge tauchen Schmuggler auf, die Leitern zur Verfügung stellen – und zwar dort, wo man sie vorher gar nicht gebraucht hat.
Wenn grenzpolizeiliche Maßnahmen die Schleuser nicht stoppen – was dann?
Es gibt kaum legale Wege nach Europa, und genau das schafft die Nachfrage nach Schleusern. Das Visasystem funktioniert nicht, obwohl viele Untersuchungen zeigen, dass Europa Arbeitskräfte für die Wirtschaft braucht. Ein erster Schritt, um den Schmugglern das Handwerk zu legen, wäre also, das Visasystem für Menschen auf der Flucht tatsächlich zugänglich zu machen. Humanitäre Visa für Asylbewerber, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, aber auch Arbeitsvisa für Migranten, die nach Europa kommen wollen. Wenn eine Person einen Antrag auf Einreise in die EU stellen könnte, um legal zu arbeiten, und dann in ihr Land zurückreisen könnte, weil es ein faires System gibt, das eine künftige Wiedereinreise ermöglicht – wozu wären dann die Schleuser da?
Interview: Donata Hasselmann
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