Frau Fincke, was genau haben Sie in Ihrer Studie untersucht?
Wir haben den Anteil der ausländischen Schüler an 108 Berliner Grundschulen abgeglichen mit dem Anteil ausländischer Kinder im Grundschulalter im umliegenden Schuleinzugsbereich. Da nur im Ausnahmefall eine andere Schule als die zugewiesene gewählt werden kann, müssten die Zahlen theoretisch etwa gleich sein. Das sind sie aber nicht! Die Studie zeigt, dass die elterliche Schulwahl die Segregation verschärft.
Dafür haben Sie aber nicht die Daten von Grundschülern mit Migrationshintergrund ausgewertet, sondern die von ausländischen Schülern, also jenen ohne deutschen Pass.
Für den Vergleich mussten wir Daten heranziehen, die sowohl für die Schule als auch für den Schulbezirk vorliegen. Für beides liegen aber nur Daten zu Schülern mit ausländischer Herkunft vor. Ein interessantes Ergebnis ist, dass die Eltern den Zuwandereranteil als Kriterium für die Qualität der Schulen heranziehen. Damit liegen sie nicht immer richtig, aber sie tun es. Der Anteil an Schülern aus Zuwandererfamilien ist jedoch kein verlässlicher Indikator dafür, ob eine bestimmte Schule vor Ort gut oder schlecht ist. Wir raten Eltern, kein Pauschalurteil über eine Schule zu fällen, sondern sich umfassend zu informieren.
Aber allein zahlenmäßig liegt der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund doch deutlich über dem der ausländischen Schüler.
Das ist richtig. Das liegt vor allem an der Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, durch das die meisten Kinder mit Migrationshintergrund die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Die Segregation wird demnach durch die Betrachtung der Ausländeranteile eher noch unterschätzt.
In den von Ihnen untersuchten Berliner Bezirken lag der Anteil der Jugendlichen unter 20 Jahren mit Migrationshintergrund bereits 2008 bei rund 60 Prozent, Tendenz steigend. Rein herkunftsdeutsche Schüler sind in diesen Bezirken also ohnehin in der Minderheit. Ist es da überhaupt sinnvoll, die Verbesserung der Lernchancen auch in einer stärkeren Mischung nach Herkunft zu sehen?
Die Frage ist doch: wo muss man ansetzen, um etwas zu verändern. Internationale Erfahrungen zeigen, dass eine erzwungene Mischung der Schülerschaft nicht zum Ziel führt. Erfolgversprechend ist, die Lernmöglichkeiten an segregierten Schulen zu verbessern. Hier setzen unsere Handlungsempfehlungen an.
Ist die Segregation an Schulen nicht vielmehr ein schicht- als ein herkunftsbezogenes Problem?
Es ist beides und das belegen fast alle großen empirischen Studien in Deutschland. An erster Stelle steht die Bildungsferne oder –nähe der Eltern, an zweiter Stelle deren Einkommen. An dritter Stelle folgt dann aber die Sprache, die zuhause gesprochen wird. Und viertens kommen weitere Faktoren dazu, die mit Zuwanderung zu tun haben, wie Informationsdefizite der Eltern und Diskriminierungserfahrungen.
Wo sehen Sie Lösungsansätze, um die Segregation an Schulen zu entschärfen und die Lernchancen für alle Kinder zu verbessern?
Wir setzen an zwei Punkten an. Erstens geht es darum, was Schulen tun können, um einer Segregation entgegenzuwirken, indem sie auch für bildungsnahe Eltern attraktiver werden. Zweitens geht es darum, was sie tun können, um die Qualität der Bildung zu verbessern, auch wenn sie eine hohe Segregation haben. Letzteres halte ich sogar für den wichtigeren Weg, weil das die Realität an vielen Schulen ist.
Was können die Schulen konkret tun?
Schulen können zum Beispiel aktiv an ihrem Ruf arbeiten und versuchen, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen, gerade, wenn die Qualität der Schule deutlich besser ist als ihr Ruf. Zum anderen können sie Eltern gezielt anziehen durch Schwerpunkte wie etwa Naturwissenschaften oder besondere künstlerische Förderung oder durch Kooperationen mit externen Partnern wie dem Technischen Museum oder einer Musikschule. An Schulen, die bereits eine hohe Segregation aufweisen, sollte vor allem in die Weiterbildung der Lehrer, in individualisiertes Lernen und fächerübergreifende Sprachförderung investiert werden.
Heißt das, die Schulen sind allein für die Lösung der Probleme verantwortlich?
Nein. Die Vorschläge sind nur kleiner Ausschnitt dessen, was insgesamt nötig wäre. Es muss auch schulpolitische, strukturelle Veränderungen geben. Zum Beispiel die Finanzierung nach sozialen Aspekten. Dabei wird genau geschaut, mit welchen Herausforderungen Schulen konfrontiert sind, daran bemisst sich dann ein Teil der Förderung. Das würde bedeuten, dass die besten Lehrer und die meisten Ressourcen an die Schulen gehen, wo es die meisten Probleme gibt – und nicht wie bisher, dass Lehrer strafversetzt werden an Schulen, wo es schwierig ist.
Müssten die Schulen nicht auch stärker auf die Eltern mit Migrationshintergrund zugehen?
Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist eine ganz wichtige Aufgabe. Vor allem, um sie zu informieren, wie das Schulsystem funktioniert oder wie wichtig es ist, zum Elternabend zu gehen. Gerade Eltern mit türkischem Migrationshintergrund wollen eine bessere Bildung für ihre Kinder, auch diejenigen, die selbst eher niedrigere Abschlüsse haben. Leider wissen sie oft nicht, wie sie ihre Kinder dabei unterstützen können oder ihnen fehlen die Möglichkeiten dazu.
Tragen gut gebildete und einkommensstarke Eltern mit Migrationshintergrund nicht genau so zur Segregation bei wie herkunftsdeutsche Eltern, auf die diese Merkmale zutreffen?
Ja, Eltern mit Migrationshintergrund aus der Mittelschicht sind meist auch nicht bereit, ihre Kinder auf eine Schule mit hohem Zuwandereranteil zu schicken. Das ist ein Dilemma, auf das der Sachverständigenrat schon wiederholt hingewiesen hat, dass selbst diejenigen, die positive Erfahrungen mit Vielfalt gemacht haben, bestimmte Schulen meiden.
Dr. Gunilla Fincke ist Leiterin des Forschungsbereichs und Geschäftsführerin des Sachverständigenrates Migration und Integration (SVR). Zuvor hat die Politikwissenschaftlerin unter anderem für die ZEIT-Stiftung und als Lehrbeauftragte für vergleichende Migrationsforschung an der Humboldt-Universität Berlin gearbeitet.
Das Interview führte Rana Göroglu, 14.12.2012
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