Dieser Artikel erschien ursprünglich im April 2017, er wurde im Dezember 2020 aktualisiert
In den vergangenen Jahrzehnten sind viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert: Rund 2,4 Millionen kamen als Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen. In den 90er Jahren nahm die Bundesrepublik zudem mehr als 200.000 jüdische "Kontingentflüchtlinge" auf, von denen die meisten aus Russland und der Ukraine stammten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen weitere Geflüchtete und Migrant*innen aus Russland und anderen Nachfolgestaaten.
Die Zuwandererzahlen geben zunächst nur Auskunft darüber, wie viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingereist sind – nicht aber, wie viele heute hier leben oder wie viele von ihnen Russisch sprechen. Dennoch kursieren in den Medien immer wieder Zahlen zu Russischsprachigen. Die Schätzungen reichen von "rund drei Millionen" bis hin zu "sechs Millionen" Menschen. Die zweite Zahl stammt vom russischen Außenministerium, umfasst jedoch neben Muttersprachlern auch Menschen, die Russisch als Fremdsprache gelernt haben.
"Russischsprachig": eine schwierige Definition
Wissenschaftler*innen halten diese Schätzungen für unseriös. "Die Zahl der Russischsprachigen lässt sich nicht genau bestimmen", erklärt der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis. Zwar gebe der Mikrozensus Aufschluss darüber, wie viele Menschen einen Migrationshintergrund aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion haben. 2019 waren das 3,5 Millionen Menschen, die meisten hatten einen Migrationshintergrund aus Russland, Kasachstan oder der Ukraine. Quelle
Nicht alle von ihnen sprechen jedoch fließend Russisch, betont Panagiotidis. Eine repräsentative Studie aus dem Jahr 2016 etwa zeigt: Unter den Erwachsenen mit Migrationshintergrund aus der ehemaligen Sowjetunion sind nur 61 Prozent Russisch-Muttersprachler*innen, weitere 27 Prozent können es fließend sprechen. Elf Prozent verfügen dagegen nur über mittlere oder grundlegende Russischkenntnisse.
Das Statistische Bundesamt zählt für das Jahr 2016 rund 2,49 Millionen Erwachsene mit postsowjetischem Migrationshintergrund. Quelle
"Umgerechnet auf diese Daten kommt man auf eine Zahl von etwa 2,2 Millionen in Deutschland lebenden Erwachsenen, die Russisch als Muttersprache oder fließend sprechen", sagt Panagiotidis.
Mit der Mehrdeutigkeit leben
Dass es nicht mehr sind, hat mehrere Gründe: Für einige Einwanderer*innen – wie zum Beispiel für Armenier*innen oder Georgier*innen – war Russisch von Anfang an nur Zweitsprache. Andere wiederum haben die Sprache nach der Migration nicht an ihre Kinder weitergegeben. "Über die Sprachkenntnisse von Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, lassen sich daher nur Vermutungen anstellen", so Panagiotidis.
Zu den 2,2 Millionen Erwachsenen müsse man zudem eine unbekannte Anzahl von Minderjährigen, Angehörige der zweiten Generation, addieren, die möglicherweise Russisch durch familiäre Vermittlung gelernt hätten, sogenannte "heritage speakers". "Ihre Zahl ist deshalb nicht ohne Weiteres zu bestimmen, da man nicht unterstellen kann, dass die in Deutschland geborenen Nachkommen postsowjetischer Familien auch Russisch sprechen", sagt Panagiotidis. Er schätzt die Zahl der Russischsprachigen auf mindestens zwei Millionen – und vermutlich deutlich unter drei Millionen.
Bei Schätzungen werde es wohl auch bleiben. Inzwischen werde die Familiensprache zwar im Mikrozensus erfasst, sagt Panagiotidis. Das würde aber nicht unbedingt zu verlässlicheren Zahlen führen, denn Einwanderer und ihre Nachkommen bewegen sich oft zwischen mehreren Sprachen: "Die statistische Erfassung des Sprachgebrauchs schafft scheinbare Eindeutigkeit, wo in Wirklichkeit Mehrdeutigkeit herrscht. Mit dieser Mehrdeutigkeit muss man im Zweifel einfach leben."
Von Pavel Lokshin, aktualisiert von Sascha Lübbe
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