MEDIENDIENST: Über Russlanddeutsche wird immer wieder viel spekuliert - was weiß man überhaupt über diese Gruppe?
Jannis Panagiotidis: Die Russlanddeutschen gelten als gut integriert im Vergleich zu anderen Migranten. Ihre Arbeitslosenquote ist offenbar niedriger als bei anderen Migrantengruppen. Wir wissen, dass die meisten einfache und mittlere Bildungsabschlüsse haben und Arbeiter und Angestellte sind. Aber es gibt viele Wissenslücken, weil Russlanddeutsche als sogenannte Aussiedler in Statistiken mit deutschstämmigen Migranten aus Polen oder Rumänien zusammengefasst werden. “Russlanddeutscher” ist ein statistisch schwer fassbares Konzept.
Wie kommt es, dass es zu Russlanddeutschen so wenige Daten gibt?
Deutsche Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion betrachtet man noch nicht sehr lange als Migranten. Die Annahme der Politik war lange Zeit, dass es sich bei ihnen um Menschen handelt, die in ihre Heimat zurückkehren, um “als Deutsche unter Deutschen” zu leben. Nach der Einreise bekamen sie gleich deutsche Pässe. Das hat dazu geführt, dass der Staat die Schwierigkeiten bei der Integration zunächst unterschätzte. Auch Statistiker und Sozialwissenschaftler bewegten sich in diesem Diskursrahmen. In den 1990er Jahren galten die Russlanddeutschen in der Forschung dann als Problemgruppe, weil man schnell merkte: Viele Junge machen Ärger mit Drogen und Gewalt. Erst Ende der Nullerjahre gab es vermehrt qualitative Untersuchungen, die zeigten, dass die Integration dann doch ganz gut geklappt hat.
JANNIS PANAGIOTIDIS ist Juniorprofessor für Migration und Integration der Russland-deutschen am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört die Erforschung der Migration von Spätaussiedlern in historischer und vergleichender Perspektive.
Wie leben Russlanddeutsche heute?
Die Integrationsprobleme der 1990er Jahre sind weitgehend verschwunden. Es gibt ganz vielfältige Lebensentwürfe. Viele Russlanddeutsche leben noch in Plattenbau-Siedlungen wie Lahr/Schwarzwald oder Berlin-Marzahn. Hochqualifizierte aus der zweiten Generation haben einen ganz anderen Lebensstil: Sie lösen sich allmählich in der deutschen Mittelschicht auf. Und wer gut qualifiziert ist und beide Sprachen gut beherrscht, geht schon mal nach Russland, wenn es einen beruflich weiterbringt, und kehrt irgendwann nach Deutschland zurück.
In den 1990er Jahren gab es Studien, die den Russlanddeutschen ein Misstrauen gegenüber anderen Migrantengruppen in Deutschland bescheinigten. Ist das noch aktuell?
Das Verhältnis zu Migranten, vor allem zu Türken, war im Alltag oft problematisch. Viele Russlanddeutsche fühlten sich von der Präsenz sogenannter Nichtdeutscher irritiert – vor der Auswanderung hatten sie sich Deutschland als ethnisch homogen vorgestellt. Die Reaktionen im Fall Lisa – die angebliche Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Flüchtlinge in Berlin-Marzahn – scheinen zu zeigen, dass diese Haltung weiterhin besteht. Auf der anderen Seite gibt es Beispiele für Zusammenarbeit: In manchen Städten existieren mittlerweile russisch-türkische Supermärkte. Die beiden Migrantengruppen sind meist die zahlenmäßig wichtigsten, da tut man sich zusammen, um diesen großen Markt auszuschöpfen.
Die Russlanddeutschen galten früher als CDU-Wähler – jetzt werden sie von Rechtspopulisten umgarnt. Welches Wählerpotenzial hat die AfD unter Russlanddeutschen?
Es gibt leider keine Demoskopie, die konkrete Antworten liefern könnte. Besonders politisch aktiv scheinen die Russlanddeutschen aber nicht zu sein. Der einzige russlanddeutsche Bundestagsabgeordnete, Heinrich Zertik, ist jedenfalls bei der CDU. Die deutschen Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR sind tendenziell konservative Wähler – und konservative Wähler insgesamt fühlen sich im Moment bei der CDU nicht so gut aufgehoben. Dennoch: Der Russlanddeutsche als potenzieller AfD-Wähler, das hat eher soziale als kulturelle Ursachen. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg hat die AfD bei konservativen Arbeitslosen und Arbeitern in prekären Lebenslagen gepunktet - darunter waren auch viele Aussiedler.
Was kann man aus der Integrationsgeschichte der Russlanddeutschen lernen?
Wir haben gelernt, dass ungeregelte Einwanderung in großer Zahl keine Katastrophe sein muss. Bei der Einwanderung der Russlanddeutschen gab es kein Punktesystem, keine Selektion nach Alter, Gesundheit oder Nützlichkeit für den Arbeitsmarkt. Irgendwie hat es trotzdem ganz gut funktioniert. Das lag auch daran, dass oft die ganze Familie mitkam. Das ist das Paradox bei den Flüchtlingen zurzeit: Man klagt einerseits darüber, dass überwiegend “junge Männer” nach Deutschland kommen, und erschwert andererseits die Familienzusammenführung. Weiterhin sieht man, wie enorm wichtig ein klarer Rechtsstatus ist. Die Russlanddeutschen wussten, dass sie in Deutschland bleiben können und bauten sich eine Existenz auf. Ihre Integration zeigt auch die Bedeutung einer guten Förderung: Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre gab es einen einjährigen Sprachkurs, relativ großzügige finanzielle Integrationshilfen und als Folge kaum Integrationsprobleme. Diese kamen erst, als der Staat Sprachförderung und Integrationshilfen nach und nach heruntergefahren hat. Jede Mark, die man damals bei der Integration gespart hat, musste man dann mit Aufschlag in die Bekämpfung von Jugendkriminalität stecken.
Interview: Pavel Lokshin
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