Generell gilt die Schulpflicht in Deutschland auch für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Ob sie wirklich zur Schule gehen oder monatelang warten müssen, hängt aber stark vom Bundesland und der Situation vor Ort ab: In einigen Bundesländern (Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland und Schleswig-Holstein) setzt die Schulpflicht schon mit dem Asylantrag ein. In anderen dagegen beginnt sie nach drei (wie in Bayern und Thüringen) oder sechs Monaten (wie in Baden-Württemberg).
Aus einer im Herbst 2015 veröffentlichte Studie geht hervor: Die meisten Flüchtlinge aber gehen erst zur Schule, wenn sie nicht mehr in einer Erstaufnahmeeinrichtung wohnen und einer Kommune zugewiesen wurden (wie in Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt). In der Regel ist das nach maximal sechs Monaten der Fall.
Der im Auftrag des Bundesbildungsministeriums erstellte Bericht "Bildung in Deutschland 2016", geht von 90.000 bis 120.000 neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung aus, die dieses Jahr beschult werden. Wie groß ihr Anteil an allen Schülern ist, lässt sich ebenfalls nur schätzen. Einer Prognose der Kultusministerkonferenz zufolge dürfte es am Ende dieses Schuljahres 325.000 Schüler geben, die durch die Flüchtlingszuwanderung seit 2014 an deutsche Schulen gekommen sind. Das entspräche einem Anteil von etwa drei Prozent an allen Schülern in Deutschland.
Zu wenig Schulplätze
Viele Kommunen haben in diesem Schuljahr zahlreiche neue Schulplätze für ausländische Kinder eingerichtet. An einigen Orten hakt es aber beim Schulstart, besonders in den Großstädten, wo viele Flüchtlinge ankommen: In Leipzig kann es zum Beispiel bis zu sieben Wochen dauern, wie eine Antwort der sächsischen Landesregierung im April ergab. Ein besonders drastisches Beispiel ist das Land Berlin: Dort warteten laut einer Antwort des Berliner Senats Ende April rund 2.600 und damit etwa jedes vierte Flüchtlingskind auf einen Schulplatz. Auch KMK-Präsidentin Claudia Bogedan räumte in einem Interview Engpässe ein – besonders in Kommunen mit ohnehin wachsenden Schülerzahlen. Das trifft auch für Berlin zu.
Schon heute gibt es in Berlin im Umfeld von großen Flüchtlingsunterkünften kaum noch Platz an den Schulen für neue Klassen, wie der Berliner Senat im April einräumte. Das Land will deshalb "Übergangsangebote" in den Unterkünften ausbauen. Das sehen Experten kritisch: "Junge Geflüchtete dürfen nicht in einem Vorab-Status gehalten werden, der die Integration verzögert", sagt etwa Tobias Klaus vom Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF).
Bis zu 25.000 neue Lehrer gebraucht
Die Regelschulen haben inzwischen Erfahrung mit Flüchtlingen: Häufig kommen sie dort zuerst in separate Vorbereitungsklassen für ausländische Kinder, die sie fachlich und sprachlich fit machen sollen. Schritt für Schritt nehmen sie dann am Regelunterricht teil. In manchen Bundesländern besuchen sie vom ersten Tag an eine Regelklasse und erhalten zusätzlich Deutschunterricht, etwa im Saarland oder in Mecklenburg-Vorpommern, so eine im Herbst 2015 veröffentlichte Studie.
Nicht nur die Räume für neue Vorbereitungsklassen werden an manchen Orten knapp, es fehlen auch neue Lehrer. Auf diese Herausforderung haben die Länder bislang sehr unterschiedlich reagiert, wie sie auf Anfrage des MEDIENDIENSTES im Mai mitteilten: So seien in diesem Schuljahr in Nordrhein-Westfalen aufgrund der Flüchtlingszuwanderung etwa 5.800 zusätzliche Stellen für Lehrer geschaffen worden. In Sachsen-Anhalt waren es unter Berücksichtigung der zu erwartenden schulpflichtigen Geflüchteten mit etwa 170 zusätzlichen Lehrerstellen deutlich weniger. Ebenso in Mecklenburg-Vorpommern, wo 70 neue Stellen eingerichtet wurden. Wie viele von diesen Stellen bereits besetzt wurden, ist bislang nicht bekannt.
Insgesamt gaben die Länder gegenüber dem MEDIENDIENST an, in diesem Schuljahr etwa 13.000 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen zu haben. Das dürfte jedoch für die kommenden Monate nicht ausreichen, denn: Allein für die Flüchtlinge aus dem vergangenen Jahr werden bis zu 14.000 zusätzliche Lehrkräfte benötigt, wie Experten im Bericht "Bildung in Deutschland 2016" berechnet haben. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) geht deutlich weiter. Vor dem Hintergrund der seit 2014 gestiegenen Flüchtlingszahlen fordert sie 25.000 zusätzliche Lehrkräfte.
Experten betonen: Jedes Kind hat "Recht auf Bildung"
Kinderrechts- und Bildungsexperten wie Lothar Krappmann oder Viola B. Georgi, aber auch Organisationen wie die Freudenberg Stiftung und UNICEF betonen: Der UN-Kinderrechtskonvention zufolge habe alle Kinder, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und ihrem Aufenthaltsstatus, ein "Recht auf Bildung". Kinder mit Fluchterfahrung seien dabei besonders benachteiligt und schutzbedürftig und sollten so kurz wie möglich in provisorischen Erstaufnahmen, Notunterkünften und großen Gemeinschaftsunterkünften bleiben.
Wurden sie einmal einer Kommune zugewiesen und besuchen dort bereits eine Schule, sollten sie durch eine Weiterverweisung an eine andere Einrichtung nicht wieder aus diesem Umfeld "herausgerissen werden", so UNICEF. Mit großer Sorge sieht die Kinderhilfsorganisation die besonderen Aufnahmezentren für Geflüchtete aus "sicheren Herkunftsstaaten" mit geringen Bleibechancen. Dort gingen die Jugendlichen weder zur Schule noch bekämen sie "strukturierte Bildungsangebote", obwohl sie oft sechs Monate oder länger bleiben.
Von Carsten Janke
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