Sogenannte arabisch-türkische Großfamilien stehen seit Jahren im Zentrum politischer und medialer Debatten. Die Familien werden oft als "kriminelle Clans" beschrieben – ähnlich wie etwa in Italien die 'Ndrangheta.
Der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba forscht seit mehreren Jahren im Milieu der arabisch-türkischen beziehungsweise kurdischen Großfamilien (sogenannte Mḥallamīya). Er hat Mitglieder der Familien über mehrere Jahre hinweg begleitet und interviewt. Ebenso sprach er mit Sicherheitsbehörden und Sozialarbeiter*innen. In einer Expertise für den MEDIENDIENST stellt er die Ergebnisse seiner Forschung vor.
Dr. Mahmoud Jaraba, Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa:
>>Expertise – Arabische Großfamilien und die "Clankriminalität"
Die zentralen Ergebnisse:
- Die Großfamilien sind keineswegs eine homogene Gruppe unter der Führung eines Clan-Chefs. Im Gegenteil: Es gibt Meinungsdifferenzen und Spaltungen unter den Familienmitgliedern. Viele Familienangehörige kennen sich gar nicht.
- Nur wenige Angehörige der Großfamilien sind kriminell. Allerdings erhalten diese Personen viel Aufmerksamkeit von Medien und Politik.
- Wenn Angehörige der Familien kriminell werden, so findet das in der Regel innerhalb der Kernfamilie (nicht: Großfamilie) oder unabhängig von Familienstrukturen statt. Es gibt viel interne Kritik an straffälligen Familienmitgliedern.
- Die als „Clans“ bezeichneten Großfamilien blicken auf eine lange Geschichte von Marginalisierung und Ausgrenzung zurück – sowohl in ihren Herkunfts- und Zufluchtsländern als auch in Deutschland.
- Angehörige der Großfamilien fühlen sich ungerecht behandelt, weil sie für das Fehlverhalten eines kleinen Personenkreises verantwortlich gemacht werden.
Ein Leben in Unsicherheit
Die Geschichte der Familien geht zurück in die Provinz Mardin im Südosten der Türkei. Aufgrund schwieriger Lebensbedingungen und politischer Unterdrückung sind viele von ihnen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von dort in den Libanon umgesiedelt. Hier haben sie Diskriminierung und Marginalisierung erlebt – bis der Bürgerkrieg sie Ende der 70er Jahre zwang, das Land in Richtung Europa zu verlassen. Sie kamen als staatenlose Flüchtlinge nach Deutschland, ihre Asylanträge wurden in der Regel abgelehnt. Seitdem lebten viele von ihnen als Geduldete. Sie stießen deshalb immer wieder auf bürokratischen Hürden – etwa bei der Arbeitssuche oder Amtsbesuchen – und konnten sich so kein stabiles Leben aufbauen.
Jaraba schätzt, dass heute zwischen 35.000 und 50.000 Personen in Deutschland den Familien angehören. Die Familienangehörigen kennen sich teilweise gar nicht und führen unterschiedliche und autonome Leben.
Kritik an straffälligen Familienangehörigen
Manche Angehörige der Großfamilien protzen öffentlich mit kriminellen Aktivitäten. Die meisten Familienmitglieder distanzieren sich aber intern von den kriminellen Verwandten. Einige haben sogar Gruppen und Initiativen gegründet, um die Aktivitäten der straffälligen Mitglieder öffentlich zu verurteilen.
In der Regel wollen Angehörige aber nicht mit der Polizei zusammenarbeiten, so Jarabas Erkenntnis. Sie haben wenig Vertrauen in staatliche Institutionen. Das liegt laut Jaraba unter anderem daran, dass sie sich aufgrund ihres Familiennamens unter Generalverdacht gestellt fühlen. "Um die Menschen für sich zu gewinnen, muss die Polizei Vertrauen zu diesen Gruppen aufbauen und Brücken schlagen", schreibt Jaraba.
Lageberichte haben methodische Schwächen
Seit 2018 haben mehrere Landeskriminalämter und das Bundeskriminalamt angefangen, umfangreiche Lageberichte zum Thema "Clankriminalität" zu erstellen. Diese verwenden unterschiedliche Definitionen von "Clankriminalität" – und fokussieren auf unterschiedliche Deliktbereiche. Eine einheitliche, bundesweite Definition von „Clankriminalität“ gibt es bisher nicht.
Das Thema "Clankriminalität" wird in den Lageberichten im Kontext von organisierter Kriminalität behandelt. Doch nur ein Bruchteil der Delikte, die den "Clan-Angehörigen" vorgeworfen werden, gehören zu den typischen Deliktbereichen der organisierten Kriminalität – wie etwa Drogenhandel oder Geldwäsche.
Trotz der unklaren Datengrundlage werden Polizeiberichte zum Thema "Clankriminalität" sehr oft von den Medien aufgegriffen.
Von Donata Hasselmann, David Gevorkjan, Fabio Ghelli
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