MEDIENDIENST: Herr Ninck, seit 2018 verzichtet die Züricher Polizei darauf, die Herkunft von Tatverdächtigen in Pressemitteilungen zu nennen. Hat sich die Berichterstattung über Straftaten daraufhin geändert?
Ja. In vielen Zeitungsmeldungen zu Straftaten wird die Herkunft des Verdächtigen nicht mehr genannt. In Kommentarspalten und in sozialen Netzwerken hat sich hingegen wenig geändert. Da wird anhand der Berichterstattung über Kriminalität immer noch wild über die Herkunft von Tatverdächtigen spekuliert.
Warum nennt die Stadtpolizei Zürich die Herkunft nicht mehr?
Mathias Ninck: Das Stadtparlament hatte das damals gefordert. Und der damalige Sicherheitsdezernent hat die Polizei angewiesen, die Herkunft nicht mehr zu nennen. Auslöser war, dass viele Redaktionen die Herkunft von Tatverdächtigen in ihren Berichten erwähnen, ohne zu prüfen, ob sie für das Verständnis der Taten eine Rolle spielt. Das zu prüfen wäre eigentlich ihre Pflicht (siehe Infokasten). Sie übernehmen diese Information aber meistens ungeprüft aus den Polizeimeldungen, besonders wenn es darum geht, ob ein Verdächtiger eine ausländische Staatsbürgerschaft hat.
Welche Leitlinien gelten für die Berichterstattung?
Der Schweizer Pressekodex ist etwas weniger streng als der in Deutschland. In Deutschland soll "in der Regel" auf die Nennung der Herkunft von Tatverdächtigen bei Berichten über Straftaten verzichtet werden. In der Schweiz sind Journalist*innen angehalten, selbst abzuwägen, wann sie die Nationalität eines Tatverdächtigen nennen.
Richtlinie des Schweizer Presserats zur Herkunftsnennung:
In der Schweiz sollen Journalist*innen im Einzelfall entscheiden, wann sie die Herkunft eines Tatverdächtigen nennen. Laut der Richtlinie 8.2 des Schweizer Presserats sollen Journalist*innen zwischen Informationswert und Gefahr einer Diskriminierung abwägen. Der Presserat weist darauf hin, dass die Nennung diskriminierend wirken kann, "insbesondere wenn sie negative Werturteile verallgemeinert und damit Vorurteile gegenüber Minderheiten verstärkt."
Richtlinie des Deutschen Presserats:
Laut der Richtlinie 12.1 des Pressekodex solle die Herkunft "in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse". Auch der deutsche Pressekodex verweist auf die Gefahr von "diskriminierenden Verallgemeinerungen". Dennoch wird die Herkunft inzwischen immer häufiger genannt, wie eine Analyse von 2019 gezeigt hat.
Am 7. März wird es eine Volksabstimmung über die Praxis der Stadtpolizei Zürich geben. Worüber wird abgestimmt?
Es wird über zwei Vorschläge abgestimmt, wie die Polizei in Zukunft die Herkunft nennen soll. Zum einen über die Kantonale Volksinitiative «Bei Polizeimeldungen sind die Nationalitäten anzugeben». Sie will erreichen, dass die Stadtpolizei Zürich ihre besondere Praxis aufgibt. Sie verlangt zudem, dass auch ein Migrationshintergrund eines Verdächtigen genannt wird. Die Initiative hatte die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei (SVP) lanciert. Der Gegenvorschlag vom Kantonsparlament verlangt die Nationalität zu nennen, nicht aber den Migrationshintergrund.
Der Migrationshintergrund soll regelmäßig erwähnt werden?
Das ist die Forderung der SVP, ja. In Zürich hat die Mehrheit der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Das Wort käme dann sehr oft vor in der Berichterstattung. Das wäre außerdem praktisch nicht umsetzbar, da die Polizei den Migrationshintergrund zunächst abfragen müsste.
Kritiker*innen sagen, die Polizei halte wichtige Informationen zurück, wenn sie die Herkunft nicht nennt.
Ob die Herkunft eines Täters eine wichtige Information ist, ist umstritten. Und auf Nachfrage können Journalistinnen und Journalisten diese Information weiterhin bekommen. Sie müssen nur bei der Medienstelle der Polizei anfragen.
Und tun sie das? Fragen Journalist*innen häufig bei Ihnen an?
Nein. Am Anfang wurde noch oft nachgefragt. Inzwischen nicht mehr. Für die Polizei ist der Mehraufwand jedenfalls verkraftbar.
MATHIAS NINCK ist Sprecher im Sicherheitsdepartment der Stadt Zürich. Davor hat er als Journalist gearbeitet.
Befürworter der Herkunftsnennung sagen, es geht ihnen um mehr Transparenz in der Kriminalitätsberichterstattung. Wie sehen sie das?
Mit der Nennung der Herkunft eines Täters wird nahegelegt, die Straftat ließe sich mit der Nationalität irgendwie erklären. Warum sonst sollte man sie nennen? Diese Kausalität ist natürlich Blödsinn. Und es ist inzwischen wissenschaftlich gut belegt, dass das regelmäßige Nennen von Herkunftsmerkmalen Vorurteile gegenüber ausländischen Staatsbürgern verstärkt.
Wie sehen das ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen Kantonen der Schweiz?
Zürich ist bei diesem Thema nun beinahe eine Insel. Im Kanton Zug hat das Parlament gerade einen solchen Vorstoß der SVP abgelehnt, aber in vielen anderen Kantonen war die Partei erfolgreich. Andere Polizeikorps nennen häufig die Nationalität von Tatverdächtigen, weil die SVP das über die Gesetzgebung so eingerichtet hat. Noch bis in die Nullerjahre hinein haben Polizeistellen und Medien eher selten die Herkunft genannt. Die rechtspopulistische SVP hat es geschafft, die öffentliche Meinung in dieser Frage umzudrehen.
Interview: Carsten Janke
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