Die Neue Oberschule Gröpelingen war beim Schulpreis 2018 unter den besten Schulen Deutschlands, wie haben Sie das erreicht?
Wir haben viele Konzepte entwickelt, um auf die sehr unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler einzugehen. Unser Ziel ist es, möglichst vielen Kindern eine gute Bildung zu geben. Gröpelingen ist der ärmste Stadtteil Bremens. Viele Kinder wachsen in Armut auf. Hinzu kommt, dass viele kein oder nur wenig Deutsch in der Familie sprechen: Als ich letztes Schuljahr in Pension ging, sprachen rund 80 Prozent der Fünftklässler nicht fließend Deutsch. Vielfalt sehen wir aber nicht als Problem, sondern als etwas Positives.
Was bedeutet das in der Praxis?
Die Zauberformel lautet "individualisiertes Lernen". Ein Beispiel: Wir können nicht davon ausgehen, dass alle Kinder einen Text gleich gut verstehen. Manche können eine anspruchsvolle Textanalyse durchführen, andere brauchen mehr Zeit, um den Inhalt zu verstehen. Dafür liegen verschiedene Materialien aus: etwa eine Version in "Leichter Sprache" oder eine Liste, auf der schwierige Wörter erklärt werden. Zudem ist es erlaubt, dass sich Schülerinnen und Schüler untereinander in anderen Sprachen verständigen, um die Aufgabe zu bearbeiten.
Woher nehmen Sie das Unterrichts-Material?
Für den Deutschunterricht sind zusätzlich zu den klassischen Schulbüchern mittlerweile viele Bücher in "Leichter Sprache" verfügbar. In den Naturwissenschaften haben wir die Materialien selbst entwickelt, da gibt es noch nicht viel.
Wie binden Sie die Eltern ein?
Zunächst ist es wichtig, dass wir die Sprachbarriere überwinden: Wir verfassen Informationsbriefe oder Einladungen zu Sprechtagen in mehreren Sprachen, damit sie alle Eltern verstehen können. Viermal im Jahr – häufiger als an vielen anderen Schulen – finden Gespräche zwischen Lehrkräften und Eltern statt, bei denen auch die Schülerinnen und Schüler dabei sind.
Wer übersetzt das alles?
Viele im Kollegium sprechen mehrere Sprachen und übersetzen die Texte. Bei den Sprechtagen übersetzen häufig die Kinder für die Eltern. Eine Übersetzung bei den Behörden anzufragen ist umständlich und es gibt nicht genug Gelder dafür. Aber man muss auch sagen, dass die Behörde den Kontakt zu den Eltern nicht pflegen kann, das müssen wir selbst machen.
SABINE JACOBSEN leitete bis Sommer 2019 die Neue Oberschule Gröpelingen in Bremen. Mit einem Gründungsteam hatte sie die Schule selbst aufgebaut. Jacobsen unterrichtete seit 1982 in den Fächern Deutsch und Musik.
Sind denn die Lehrerinnen und Lehrer auf diese Form von Schule vorbereitet?
Nicht unbedingt. Aber uns ist es vor allem wichtig, dass neue Kolleginnen und Kollegen eine Offenheit mitbringen und bereit sind, sich weiterzuentwickeln. Unser Kollegium tauscht sich permanent aus und gibt sich gegenseitig Rat. In den ersten Jahren haben wir für neue Lehrkräfte einen Workshop zum Umgang mit Vielfalt durchgeführt. Zudem haben wir einen Beauftragten, der sie berät, etwa wenn Kinder fasten oder an einem nicht anerkannten Feiertag freihaben möchten. Die Kompetenz kann mit der Praxis entstehen. Natürlich wäre es wichtig, wenn angehende Lehrkräfte an der Universität darauf vorbereitet werden.
Wie sind Sie auf die Konzepte gekommen?
Wir haben die Schule neu aufgebaut. Mit einem Gründungsteam haben wir Konzepte gewälzt und sind in Deutschland und Europa herumgefahren: Wir haben uns Schulen in Berlin, aber auch in Finnland und den Niederlanden angeschaut. Bei manchen haben wir uns die Ideen zum Thema Inklusion eingeholt, bei anderen Anregungen dazu, wie wir die Räume gestalten können. Wir haben mit einem Jahrgang angefangen und dann Jahr für Jahr geschaut, was wir ändern oder beibehalten möchten. Es war eine große Chance, von vorne anzufangen. Das ist einfacher, als bestehende Strukturen umzugestalten.
Das klingt sehr aufwendig.
Ja, aber der Aufwand hat sich gelohnt. Schade ist nur, dass wir unser Wissen nicht an andere Schulen weitergeben konnten. Denn unsere Konzepte sind übertragbar.
Warum ist das nicht passiert?
Das wird einfach nicht gefördert. Die Ideen stehen zwar auf der Homepage, aber da müssen andere Schulen erstmal drauf stoßen. Schulen haben da eine große Selbstständigkeit und wenn die Schulleitung das nicht selbst anstößt, passiert nichts. Hier müsste die Verwaltung offensiver steuern. Sie müsste Schulen darauf hinweisen, welche Konzepte hilfreich sind und den Austausch mit anderen Schulen fördern.
Wo sind Sie mit Ihren Konzepten an Grenzen gestoßen?
Generell stoßen wir mit dem Bildungsauftrag an unsere Grenzen: Viele Schülerinnen und Schüler erreichen die Ziele am Ende der Jahrgangsstufen nicht, einige verlassen die Schule ohne Abschluss. Wenn Jugendliche erst spät nach Deutschland kommen und vorher kaum die Schule besucht haben, können wir auch mit guten Konzepten und viel Engagement oft nicht viel machen. Die frühkindliche Bildung ist sehr wichtig. Eine weitere Gefahr ist, dass das Ungleichgewicht auf leistungsstarke Schüler zurückfällt und sie nicht gefördert werden – hier braucht es eine ideale Mischung, damit sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig unterstützen können.
Interview: Andrea Pürckhauer
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