Seit etwa einem Jahr kommen weit weniger Flüchtlinge nach Europa als in den Jahren zuvor. 2015 gelangte noch rund eine Million nach Europa, vor allem über Griechenland. 2016 erreichten etwa 360.000 Europa, hauptsächlich über Italien. Zwischen Januar und August 2018 kamen rund 70.000 Menschen. Außerdem hat sich die Fluchtroute über das Mittelmeer verlagert.
Im Juni 2018 kündigte der italienische Innenminister Matteo Salvini an, Italiens Häfen blieben ab sofort für Flüchtlinge geschlossen. Mehreren Schiffen mit Flüchtlingen, die aus dem Mittelmeer gerettet worden waren, wurde daraufhin die Einfahrt in italienische Häfen verwehrt. Selbst ein Schiff der italienischen Küstenwache, die "Diciotti", durfte nicht anlegen, weil es Flüchtlinge an Bord hatte. Zur Begründung führte Salvini angeblich drohende Gefahren an. Tagelang mussten diese Schiffe deshalb auf hoher See bleiben, oftmals unter schwierigen Wetterbedingungen, mit Frauen, Minderjährigen und Kranken an Bord. Mit diesen spektakulären Fällen zeigte Salvini Härte und sorgte für Schlagzeilen.
Libyens Küstenwache fängt Flüchtlinge ab
Dass weniger Flüchtlinge in Italien landen – seit Jahresbeginn waren es 19.000 – hat aber noch andere Gründe. Denn die international anerkannte libysche Regierung in Tripolis, die den Westen des Landes kontrolliert, hat mit der Europäischen Union und der italienischen Regierung im vergangenen Jahr ein Abkommen geschlossen, um die "irreguläre Migration" nach Europa zu unterbinden. Die Regierung in Tripolis erhielt unter anderem 46 Millionen Euro, um ihre Küstenwache und Grenzschutz-Behörden aufzurüsten. Außerdem hat sie, mit Hilfe der EU, im Juni diesen Jahres eine eigene Search-and-Rescue-Zone (SAR) vor der libyschen Küste eingerichtet.
Wenn ein Boot vor der libyschen Küste in Seenot gerät, geht der Notruf seitdem nicht mehr an die MRCC-Koordinierungszentrale in Rom, sondern nach Tripolis. Das dortige "Joint Rescue Co-ordination Centre" (JRCC) benachrichtigt wiederum die libysche Küstenwache, die das Boot abfängt und die Geflüchteten auf die eigenen Boote zerrt – oftmals mit extremer Gewalt, wie der UN-Generalsekertär Antonio Guterres in seinem Lagebericht über Libyen dokumentiert hat. Jeder dritte Geflüchtete, der von der libyschen Küste in See sticht, wird seit dem Abkommen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) von der libyschen Küstenwache abgefangen – vor einem Jahr waren es nur zehn Prozent.
Die aufgegriffenen Flüchtlinge werden automatisch als "illegale Einwanderer" eingestuft. Sie landen in der Regel in einem der 17 Internierungslager, die der Regierung in Tripolis unterstehen. Inzwischen haben sowohl die IOM als auch die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) Zugang zu den Lagern: Sie bieten den Inhaftierten erste Hilfe und medizinische Versorgung an. Trotzdem bleiben die Zustände menschenunwürdig, in einem Bericht des Auswärtigen Amts wurden sie 2017 sogar als "KZ-ähnlich" bezeichnet. MSF spricht auch heute noch von einer "untragbaren Situation".
Nach Angaben der MSF werden die Menschen in diesen Lagern weder offiziell registriert noch lässt sich nachverfolgen, was mit ihnen geschieht. Ein Asylsystem gibt es nicht, die Fluchtgründe werden von niemandem geprüft. Der einzige Weg, um aus den Lagern herauszukommen, ist das Rückkehr-Programm der IOM. Zwischen Januar und August 2018 hat die Organisation etwa 11.000 Menschen zurück in ihre Herkunftsländer gebracht, die meisten von ihnen nach Zentral- und Westafrika. Daneben gibt es in Libyen eine unbekannte Zahl inoffizieller Lager, die von bewaffneten Milizen betrieben werden. Sie sollen nach Angaben der IOM vielerorts als Umschlagplätze für Menschenhandel dienen.
NGOs werden an der Seenotrettung gehindert
Selbst wenn Flüchtlinge der libyschen Küstenwache entkommen können, ist der Weg über das Mittelmeer nach Europa für sie viel schwieriger geworden. "Niemand weiß, was genau in den Gewässern um die libysche SAR-Zone passiert", sagt Florence Kim, Sprecherin für Zentral- und Westafrika bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Die Zahl der Menschen, die im zentralen Mittelmeer gestorben sind, lag nach Schätzungen der IOM im Juni bei 564, im Juli bei 157. Die Strecke zwischen Libyen und Italien bleibt somit die gefährlichste Route im Mittelmeer. "Doch wir wissen nicht, wie viele Menschen tatsächlich gestorben sind", sagt Kim, "denn es gibt in diesen Gewässern kaum mehr internationale Beobachter, die das Schicksal der Bootsflüchtlinge dokumentieren können."
Die meisten Rettungseinsätze in internationalen Gewässern werden derzeit von den Einheiten der "Frontex"-Mission "Themis" durchgeführt, die weit entfernt von der libyschen Küste patrouilliert. NGOs dagegen werden systematisch an der Seenotrettung gehindert. Drei Organisationen haben ihre Schiffe deshalb aus dem Gebiet abgezogen. Vier weitere Organisationen sind derzeit Gegenstand von Ermittlungen, von denen keine bislang zu einer Verurteilung geführt hat. Sie können deshalb nicht ihre Häfen verlassen.
Das führt dazu, dass NGOs heute deutlich weniger Menschen auf dem Mittelmeer retten als früher: Gingen 2017 etwa 40 Prozent der Rettungsaktionen auf ihr Konto, waren NGOs im Juni dieses Jahres nur noch an jedem zehnten Rettungseinsatz beteiligt. Lediglich zwei Organisationen – "SOS Mediterranee" und "Pro Activa Open Arms" – patrouillieren derzeit noch im zentralen Mittelmeer. Doch auch sie sind seltener als früher an Rettungseinsätzen beteiligt. Der Grund: Zum einen erreichen sie weniger Notrufe, so ein Sprecher der Hilfsorganisation "SOS Mediterranee". Zum anderen müssen sie tagelang nach einem Hafen suchen, den sie ansteuern dürfen. Denn nicht nur Italien, sondern auch Malta, Frankreich und Spanien haben sich wiederholt geweigert, Geflüchtete aufzunehmen.
Spanien ist zum neuen Fluchtpunkt geworden
Die sogenannte westliche Mittelmeer-Route nach Spanien ist zur wichtigsten Fluchtroute über das Mittelmeer geworden: 32.000 Menschen gelangten allein in diesem Jahr auf diesem Weg in die beiden nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla oder nach Spanien. Dem stehen etwa 19.000 Menschen entgegen, die nach Italien, und rund 18.000, die über Griechenland nach Europa gelangt sind (Stand: August 2018).
Während die Zahl der Menschen, die aus Westafrika (Mali, Guinea) nach Italien gekommen sind, stark gesunken ist, hat ihre Zahl in Spanien zugenommen. IOM-Referentin Kim warnt jedoch davor, von einer "Migrationswelle" zu sprechen. Die heutige Lage in Spanien sei kaum mit der Situation in Griechenland 2015 oder in Italien im Jahr 2016 vergleichbar.
Von Fabio Ghelli
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