Kunstschaffende sind Teil der globalen Fluchtbewegungen: Sie fliehen etwa aufgrund von Krieg, Gewalt oder politischer Verfolgung. Auch die künstlerische Tätigkeit selbst kann ein Grund für den Gang ins Exil sein: Weltweit sind Künstler*innen wegen ihres Schaffens teils massiver Gewalt ausgesetzt. Sie werden eingeschüchtert, bedroht, strafrechtlich verfolgt und inhaftiert. Für das Jahr 2019 dokumentiert die Nichtregierungsorganisation Freemuse 711 Fälle in 93 Staaten, in denen das Recht auf künstlerische Freiheit verletzt wurde.
Für die einen kommt es nicht in Frage, ins Exil zu gehen – "Leaving is not an option" –, für die anderen ist es nicht selten der einzig verbleibende Ausweg. So berichtet eine Bildende Künstlerin aus dem Iran, dass sie viele Jahre bedroht wurde, weil Teile ihrer Werke nackte Frauen abbildeten. Den Entschluss, die Islamische Republik zu verlassen, fasste sie allerdings erst, als ein Film unter anderem über sie und ihre Gemälde produziert werden sollte und der Regisseur während der Produktionsarbeiten festgenommen wurde.
Publikum, Ruf und Netzwerke fehlen im neuen Land
Im Exil in Deutschland angekommen, stehen Kunstschaffende vor vielen Herausforderungen: sie müssen sich an ein neues Umfeld und ein neues Publikum gewöhnen. Sie müssen lernen, wie der Kunst- und Kulturbetrieb funktioniert, welche Strukturen und Abläufe es etwa bei Förderanträgen gibt.
Eine schwere Erfahrung ist, das Publikum zu verlieren. So beschreibt beispielsweise eine Musikerin, dass es in Berlin nur einen kleinen Markt für Konzerte mit dem Saiteninstrument Oud gebe. Ein Publikum müsse erst erschlossen werden, denn die Oud ist im arabischsprachigen Raum zwar weit verbreitet, in der Bundesrepublik aber weitgehend unbekannt. Ein Schriftsteller erzählt, dass die Gattung der Lyrik im arabischsprachigen Raum viel verbreiteter sei als in der Bundesrepublik.
Zum Exilbegriff
Der Duden definiert Exil wie folgt: "Langfristiger Aufenthalt außerhalb des Heimatlandes, das aufgrund von Verbannung, Ausbürgerung, Verfolgung durch den Staat oder unerträglichen politischen Verhältnissen verlassen wurde".
Die Verwendung des Begriffs "Exil" ist in Deutschland stark mit der Zeit des Nationalsozialismus assoziiert und bezieht sich meist ausschließlich auf die Erfahrung von Verfolgten aus politischen und weltanschaulichen Gründen in den Jahren von 1933 bis 1945. Selten wird der Begriff mit gegenwärtigen Phänomenen in Verbindung gebracht.
Dieser eng verstandene Exilbegriff wird zuweilen kritisiert. Mithin existieren wissenschaftliche Arbeiten, die dafür plädieren, den Begriff räumlich und zeitlich erweitert zu denken. Im Untersuchungsfeld der Studie wird der Begriff von verschiedenen Akteur*innen und Künstler*innen immer wieder aufgegriffen.
Für viele stellt die Sprache eine große Herausforderung dar. Das gilt besonders für die Kunstsparten, in denen die Sprache das maßgebliche Werkzeug für die eigene Arbeit ist wie Literatur oder Theater. Schriftsteller*innen beispielsweise müssen sich entscheiden, ob sie in ihrer Erstsprache oder in einer für sie neuen Sprache weiterschreiben möchten. Für Werke in der Erstsprache braucht es sehr gute Übersetzungen, die kostspielig sind. Für viele ist es eine Hürde, Deutsch zu lernen, vor allem wenn sie sie so gut beherrschen müssen, um darin Literatur zu verfassen.
Häufig fehlen berufliche Kontakte. Ohne Netzwerke ist es allerdings kaum möglich, der kreativen Tätigkeit nachzugehen. Denn Künstler*innen stehen immer mehr unter dem Druck, ihre Werke schnell fertig zu stellen und damit Geld zu verdienen. Um Kund*innen, ein Publikum oder einen Ort zu finden, wo sie auftreten können, brauchen sie jedoch Kontakte im Kunst- und Kulturbetrieb.
Einen guten Ruf müssen sie sich in der Regel ganz neu erarbeiten. Denn in verschiedenen Regionen der Welt unterscheidet sich, was als hochwertige Kunst betrachtet wird und was nicht. Gerade für Künstler*innen, die im Herkunftsland sehr bekannt und anerkannt waren, ist es nicht selten eine bittere Erfahrung, wenn ihre Arbeit im Exilland Deutschland diese Wertschätzung nicht mehr erfährt.
Wenn Kunstschaffende auf ihre Fluchterfahrung reduziert werden
Eine große Herausforderung ist, dass viele Kunstschaffende auf ihre Fluchterfahrung reduziert werden. Sie werden nicht als Künstler*innen, sondern in erster Linie als Exilkünstler*innen gesehen. So berichten Künstler*innen, dass nicht immer im Vordergrund stehe, ob ihre Kunst qualitativ hochwertig sei. Hingegen haben sie den Eindruck, häufig allein aufgrund ihrer Fluchterfahrung eingeladen zu werden. Gelegentlich werde erwartet, dass die eigene Geschichte in den Werken eine Rolle spielt. "Wo ist die Kriegsgeschichte in deinen Bildern?", wurde etwa eine Bildende Künstlerin aus Hamburg während einer Ausstellung gefragt.
LAURA LOTTE LEMMER ist Doktorandin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Sie untersucht Transformationsprozesse im Literaturbetrieb angesichts weltweiter Fluchtbewegungen seit den 1990er-Jahren. Gemeinsam mit Jochen Oltmer hat sie die Studie "Exil in der Bundesrepublik Deutschland. Bedingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler" verfasst.
Foto: Stephan Schute
Wie gehen Künstler*innen damit um? Manche lehnen Einladungen zu Auftritten, Ausstellungen und Veranstaltungen ab, zu denen sie allein wegen der Exilerfahrung eingeladen werden oder bei denen abzusehen ist, dass es nicht vorrangig um ihre Kunst gehen wird. Andere nutzen die Vorteile, die daraus für sie entstehen, auch da sie mit den Auftritten und Veranstaltungen ihren Lebensunterhalt verdienen.
Für manche Künstler*innen ist das Exil ein wichtiger Teil ihrer Identität, den sie ausdrücklich nach außen hin präsentieren möchten. Sie bezeichnen sich selbst explizit als im Exil lebend. Andere Kunstschaffende lehnen es entschieden ab, sich als Exilierte zu nennen.
Manchmal ist die Etikettierung unvermeidbar wie etwa bei Förderprogrammen, die sich speziell an Künstler*innen im Exil richten. Die Förderprogramme brauchen den entsprechenden Titel, damit sie von der Zielgruppe überhaupt wahrgenommen werden können. Problematisch ist, wenn Künstler*innen allein auf die Exilerfahrung reduziert werden.
Neue Ideen und Impulse im Exil
Insgesamt gehen Künstler*innen mit den zahlreichen Hindernissen und Hürden unterschiedlich um. Mitunter können sie ihrer Tätigkeit nicht weiter nachgehen. Über das "Aufgeben" denken sie immer wieder nach, das betonen viele Künstler*innen.
Gleichzeitig dürfen im Exil lebende Kunstschaffende nicht pauschal viktimisiert werden. Manche bekommen im Exil neue Impulse und Ideen; fast alle heben den Wert künstlerischer Schaffensfreiheit hervor. Einigen Exilkünstler*innen ist es gelungen, in der kompetitiven Kunstszene Fuß zu fassen. Sie haben Projekte auf den Weg gebracht, ausgestellt, Konzerte gegeben, Bücher veröffentlicht, Filme produziert und Theaterstücke aufgeführt.
Sie verändern auch den Kunst- und Kulturbetrieb in Deutschland: Die Kunstschaffenden bringen neue künstlerische Formen und Praktiken mit. Damit fordern sie das hiesige Kunstfeld heraus, ermöglichen und erfordern produktive Reibungen.
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