Lange wurde gerätselt, wer montags in Dresden bei eiskaltem Wetter "Wir sind das Volk" skandiert und durch die Straßen läuft. Diese Woche bot endlich jemand Auskunft: "In Dresden marschiert die Mittelschicht", lautete die Schlagzeile bei Spiegel Online, die die Essenz einer Untersuchung der TU Dresden wiedergeben sollte. "Protest der situierten Mittelschicht", titelte Deutschlandradio Kultur. Viele weitere Medien haben über die erste empirische Untersuchung der Pegida-Demonstranten berichtet und die Ergebnisse überwiegend unkritisch übernommen.
Demnach würde der Protest keineswegs – wie oft angenommen – von Rechten, Rentnern und Arbeitslosen getragen. Auf Seite zwei der Präsentation für die Pressekonferenz heißt es:
»Der "typische" PEGIDA-Demonstrant entstammt der Mittelschicht, ist gut ausgebildet, berufstätig, verfügt über ein für sächsische Verhältnisse leicht überdurchschnittliches Nettoeinkommen, ist 48 Jahre alt, männlich, gehört keiner Konfession an, weist keine Parteiverbundenheit aus und stammt aus Dresden oder Sachsen.«
Besonders überraschend aber waren die Ergebnisse über die Motivation der Demonstranten, die unter dem Banner "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) mitliefen: Nur fünf Prozent gaben an, "aus Protest gegen religiös oder ideologisch motivierte Gewalt" dabei zu sein. Viel wichtiger sei den Teilnehmern an Pegida-Demonstrationen eine generelle "Unzufriedenheit" mit der Politik (54 Prozent) und die Kritik an Medien und Öffentlichkeit (20 Prozent) und schließlich Ressentiments gegenüber "Zuwanderern und Asylbewerbern" (15 Prozent), wobei Vorbehalte gegen Muslime bzw. den Islam jedoch besonders ausgeprägt seien.
Die Ergebnisse vermitteln, dass es sich hier keineswegs um besonders rassistische oder randständige Bürger handelt, sondern um Menschen aus der Mitte, die Kritik am System üben wollen. Das ergänzt sich mit den Forderungen von Politikprofessor Werner J. Patzelt, der ebenfalls am Institut für Politikwissenschaft der TU Dresden lehrt: Immer wieder hat er in Medienberichten dafür plädiert, die Demonstranten ernst zu nehmen und in einen politischen Dialog mit der Gruppe zu treten.
Nicht repräsentativ, überinterpretierte Durchschnittswerte
Die Studie vermittelt den Eindruck, es lägen nun empirisch gesicherte Informationen über den „typischen Pegida-Demonstranten“ vor. Blogger und Wissenschaftler zweifeln inzwischen jedoch an den scheinbar eindeutigen Ergebnissen. Vor allem stellen sie die Methodik und Repräsentativität der Studie in Frage. Die Tatsache, dass es sich hierbei nicht um eine repräsentative Studie handle, sei von den Forschern nicht deutlich genug gemacht worden. Im Gegenteil, sie wirkten mit ihrer Pressearbeit aktiv daran mit, dass ein Prototyp entstanden ist, den es so nicht gibt.
Beobachter sind sich weitestgehend einig: Bei Pegida handelt es sich um eine heterogene Gruppe. "Deswegen ist der Versuch problematisch, das Bild eines prototypischen Pegida-Demonstranten zu zeichnen", erklärt Naika Foroutan, stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Das führe dazu, dass alle nicht ins Bild passende Personen als Abweichung gesehen werden.
Beachtet man die Ergebnisse der Studie genauer, zeigt sich etwa, dass von einem typischen Alter keine Rede sein kann. Vielmehr wurde ein Durschnittswert verallgemeinert: Dem oben vorgestellten Demonstranten – "48 Jahre alt" – entsprechen unter den 400 Befragten vermutlich nur zehn bis 20 Personen. Denn lediglich 19 Prozent (also 76 Befragte) sind zwischen 40 und 49 Jahren alt. Dagegen sind 44 Prozent der Demonstranten laut TU-Studie 50 Jahre und älter und jeder Dritte jünger als 40.
Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die Frage: wie repräsentativ können die Ergebnisse sein? Insgesamt wurden circa 1.200 Personen angesprochen, erklären die Studienmacher, rund 400 davon haben an der Befragung teilgenommen. Mit anderen Worten: Zwei Drittel der Befragten lehnten es ab, Auskunft über ihre Person und Beweggründe zu geben. Das sei nicht ungewöhnlich und im erwarteten Bereich, schreiben die Autoren. Dennoch stellt sich die Frage, ob die radikaleren und extremistischen Teilnehmer in der Untersuchung unberücksichtigt blieben.
"Es ist sehr schwierig, aus einer Masse eine vernünftige Stichprobe zu ziehen", sagte dazu der Geschäftsführer des Forsa-Instituts Manfred Güllner der Zeitung "Die Welt". Bei der Interpretation der Ergebnisse über Pegida-Demonstranten sei er deshalb äußerst vorsichtig. Laut Güllner sei zudem bekannt, dass Rechtsradikale sich "meistens nicht befragen lassen".
Veröffentlichung einer weiteren Studie am Montag
"Mit einer Befragung erreicht man wohl kaum den harten Kern von Pegida", erklärt auch Protestforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). "Auf dieser Grundlage generelle Aussagen darüber zu treffen, wer der typische Pegida-Anhänger ist, wäre voreilig und falsch." Der Vorstandsvorsitzende des "Vereins für Protest- und Bewegungsforschung" wollte dennoch wissen, wer die Pegida-Anhänger sind, was sie auf die Straße treibt und wie sie gegenüber Islam und Politik eingestellt sind.
Gemeinsam mit einem Team von Wissenschaftlern der TU Chemnitz hat Rucht daher am 12. Januar Protestierende in Dresden befragt, Demonstranten, Slogans und Transparente beobachtet und eine Online-Befragung durchgeführt. An diesem Montag werden die Ergebnisse dazu veröffentlicht. Die Wissenschaftler gehen mit den Ergebnissen bereits in der Presseeinladung vorsichtiger um und kündigen an: "Auf der Pressekonferenz wird auch das methodische Vorgehen bei einer solchen Befragung problematisiert."
Von Ferda Ataman und Rana Göroğlu
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