Es geht ein Riss durch die Gesellschaft, erklären Werner Schiffauer, Andreas Zick und Naika Foroutan im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin. Die drei Wissenschaftler gehören dem Rat für Migration an, ein bundesweites Netzwerk von über 90 Migrationsexperten. Sie haben mehrere Untersuchungen zu Bevölkerungseinstellungen neu ausgewertet. Diese zeigen: Rund die Hälfte der Deutschen befürworten eine pluralistische und multiethnische Gesellschaft, 36 Prozent fordern eine stärkere Willkommenskultur. Ebenfalls ein Drittel der Bevölkerung befürwortet jedoch ein „stärkeres Nationalgefühl“ das Eingewanderte ausdrücklich ausschließt.
Diese Spaltung ist nach Ansicht der drei Wissenschaftler die Folge einer überholten Einwanderungs- und Integrationspolitik. Obwohl fast alle politischen Parteien inzwischen die Meinung vertreten, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, sei dieses Bewusstsein noch nicht überall in der Gesellschaft angekommen. Besonders Menschen, die wenig oder gar nicht mit Einwanderung zu tun haben, würden stärker zu rassistischen und fremdenfeindlichen Einstellungen neigen.
Für Werner Schiffauer, Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Viadrina in Frankfurt-Oder, zeigt die Einwanderungsgeschichte Deutschlands eindeutig: „Überall, wo sich die Gesellschaft der Vielfalt öffnete, ergaben sich positive Beispiele von einem fruchtbaren Zusammenleben.“
Naika Foroutan, Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) kritisiert vor allem, dass den meisten Menschen eine konkrete Vorstellung fehle, was das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft bedeutet. Ihre Umfragen zeigen: Eine große Mehrheit spricht sich zwar für eine stärkere Anerkennung der Muslime in Deutschland aus. Fast genauso viele wollen allerdings verbieten, dass Jungen beschnitten werden und Lehrerinnen in der Schule einen Kopftuch tragen.
Der Rat für Migration rät deshalb der Politik davon ab, auf Ängste und Forderungen von Rechtspopulisten und Islamophoben zu reagieren. Viel effektiver sei es, proaktiv an einer vielfältigeren Gesellschaft zu arbeiten. Denn allein durch den direkten Kontakt mit einer pluralistischen Gesellschaft ließen sich Vorurteile abbauen.
Deshalb schlägt der Rat für Migration vor, eine „Leitbild-Kommission“ einzurichten. Das Ziel: eine neue Definition des deutschen „Wir“ zu erarbeiten, die die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte berücksichtigt. Auch solle man den Wissensstand über die Einwanderungsgesellschaft stärken: Zum einen müsse die Rolle von Migration in der Geschichte der Bundesrepublik stärker thematisiert werden. Zum anderen müsse mehr Austausch zwischen Wissenschaftlern und Medienmachern stattfinden, damit die Berichterstattung über das Thema weniger emotional und stärker faktenbasiert geführt wird.
Ob sich die Proteste gegen Einwanderer und Muslime in Dresden und anderen deutschen Städten zu einer dauerhaften politischen Bewegung entwickeln sei unklar, sagt Andreas Zick, Leiter des Instituts für Interdisziplinare Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) in Bielefeld. Die Mentalität und die Vorurteile, die die Demonstrationen prägen, sind Zicks Studien zufolge schon lange in der deutschen Gesellschaft verbreitet. Die große Gefahr sei jedoch, dass sich durch den Erfolg dieser Proteste mehr Menschen in ihren diskriminierenden Überzeugungen bestätigt fühlen.
Von Fabio Ghelli
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