Vor 50 Jahren wurde in Deutschland der eine Millionste Gastarbeiter Armando Rodrigues de Sà willkommen geheißen. Er kam aus Portugal und erhielt ein Mokick zum Geschenk. Was wir kaum erinnern ist, wie er begrüßt wurde. Mit Pauken und Trompeten wurde für ihn „Auf in den Kampf Torero“ geschmettert; Spanisch für einen Portugiesen. Herr Rodrigues de Sà war nicht lange in Deutschland. 1970 zog er zurück nach Portugal. Er wurde schwer krank und starb 1979, verarmt durch hohe Behandlungskosten.
So viel zum historischen Rückblick. Ein halbes Jahrhundert danach scheint es um die Integration von Einwanderern viel besser zu stehen. Die Mehrheit der Parteien bekennt heute sogar fast ungefragt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Wir sind sensibler geworden. Von „Gastarbeitern“ ist nicht mehr die Rede und symbolisch erhielten in diesem Jahr einige Einwanderer ihren deutschen Pass sogar im Schloss Bellevue. Viele Stereotype über die Fremden von damals dienen fast nur noch klischeehaften Bildern und Witzen in Comedies oder Kinofilmen, die uns über die Migrationsgeschichte schmunzeln lassen.
Integrationsprozess ist gefährdet
Könnte nicht nach einem halben Jahrhundert der Anwerbung das Gesamturteil also sehr gut ausfallen? Eine positive Bilanz fällt derzeit eher schwer, angesichts der menschenfeindlichen Proteste, der klammheimlichen oder offenen Zustimmung zu Vorurteilen gegen Muslime, den Islam, Flüchtlinge, Asylbewerber, Bettler oder auch Frauen, die eine sprachliche Gleichstellung möchten. Seit einiger Zeit konzentriert sich die öffentliche Debatte eher auf kriminelle Migranten, irreguläre Zuwanderung ("Wirtschaftsflüchtlinge") und radikalisierte migrantische Milieus, statt auf Integrationspotenziale. Die Mehrheitsgesellschaft scheint Integrationserfolge gar nicht wahrzunehmen oder so zu interpretieren, dass sie nicht mehr sichtbar wird.
Prof. Dr. ANDREAS ZICK ist Konflikt- und Gewaltforscher. Seit April 2013 leitet er das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, das unter anderem eine Langzeitstudie zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit durchführte. (Foto: dpa)
Radikale Gruppen wie PEGIDA schaffen es sogar, dass sich die Politik auf sie zubewegt und uralte Ängste hervorruft, wie Szenarien der Überfremdung oder das Bild von Deutschland als "Weltsozialamt". Auch Hasstaten und –reden von extremistischen Gruppen, die sich auf den Islam beziehen, werden heranzogen, um Muslime in Generalverdacht zu setzen.
Integration ist ein anstrengender Prozess der Veränderung. Und dieser Prozess samt seiner Steuerung ist gefährdet. Dabei könnte man auch fragen: Ist der der Integrationsprozess nicht sogar schon längst gescheitert, angesichts der immer wieder festgestellten Studienergebnisse über die Bildungsungleichheit von Menschen mit und ohne Migrationserfahrung?
Die richtige Frage müsste lauten: Wie ist die Integrationskultur und wie verläuft der Integrationsprozess? Schon die Frage, ob Integration nun gelungen oder misslungen sei, ist eigentlich nicht angemessen. Sie ist aber viel schwieriger zu beantworten, und sie lässt sich nicht in den Kategorien von „pro – contra“, „Nutzen – Belastung“ oder „willkommen heißen – rausfliegen“ beantworten.
Einen Schritt vor, einen zurück
Sie lässt sich auch nicht blenden von generalisierten Vorurteilen, die dann hochkochen, wenn wenige Einwanderer oder Konvertiten radikale Ansichten vertreten und aus den Minderwertigkeitsgefühlen von Migranten und ihren Nachkommen Mobilisierungsgewinne schlagen. Gerade weil Integration ein Prozess ist, der vorwärts und rückwärts verlaufen kann, ist sie anstrengend und erzeugt immer wieder Konflikte, die bewältigt werden müssen.
In unserer aktuellen Studie "ZuGleich – Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit" kommt die Ambivalenz in den Einstellungen zur Integration sehr klar zum Ausdruck. Wir haben eine repräsentative Stichprobe von Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit befragt und festgestellt, dass das Integrationsklima, gemessen an Einstellungen, Haltungen und Emotionen gegenüber Migranten nicht schlecht ist. Mehr als jede dritte befragte Person befürwortet eine noch stärkere Willkommenskultur gegenüber Migranten, aber fast genau so viele Bürger möchten das nicht.
Diversität im Sinne kultureller Vielfalt wird fast von jedem zweiten als positiv beurteilt, aber ein Viertel lehnt Diversität auch deutlich ab. Diese auch in anderen Studien zutage tretende Ambivalenz wird für die Migranten dabei zum Problem. Sie müssen erfahren, dass die Mehrheitsgesellschaft ohne Migrationserfahrung es gut findet, wenn Migranten sich einleben. Wenn es aber um die Frage geht, ob sie sich hier zu Hause fühlen sollen, sinkt die Zustimmung. Es hilft den 55 Prozent der befragten Migranten dann auch nicht, wenn sie selbst der Meinung sind, dass sie sich den Deutschen anpassen müssen und nicht umgekehrt bzw. dass Integration ein gegenseitiger Anpassungsprozess ist.
Willkommenskultur prallt auf Vorurteile
Es fällt allen schwer, sich vom einseitigen Assimilationskonzept zu lösen. Was sich in den Meinungen deutlich ausdrückt, ist ein Grundverständnis, das schon bei der Wahl der Musik für Herrn Rodrigues de Sà zum Ausdruck kam. Da wird ein Portugiese mit deutscher Marschkappelle und spanischer Musik in den Kampf geführt. Das war einmal?
Viele Deutsche sehnen sich derzeit nach einer stärkeren Dominanz ihrer Werte und Identitäten. Bei der Frage, wer eigentlich dazugehört, greifen sie gerne auf harte Kriterien wie Sprachbeherrschung oder Erwerbstätigkeit zurück. Sie übersehen dabei, dass dies Menschen mit Migrationserfahrung schon lange erfüllen. Diese halten dieselben Ansprüche hoch, nur hilft ihnen das wenig, denn letztendlich kommen sie an den immer wieder angemahnten Vorrechten der Etablierten nicht vorbei. Und auch nicht daran, dass die meisten Deutschen den Begriff "Integration" zwar verinnerlicht haben, damit aber eigentlich meinen: "Zuerst müsst ihr euch anpassen, dann könnt ihr eventuell auch gleichwertig behandelt werden."
Und so prallt dann eine starke Befürwortung von Vielfalt und einer Willkommenskultur auf eine Ungleichwertigkeit, die durch Vorurteile und den Appell zu alten Werten geprägt ist. Dem Integrationsprozess droht die Gefahr, eine Ungleichzeitigkeit zu etablieren: Die einen müssen den anderen immer hinterherlaufen und zeigen, dass sie nicht zu viele Forderungen stellen und die veralteten Privilegien nicht infrage stellen.
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.