Sexismus rechtfertigt die Dominanz sowie die strukturelle Herrschaft von Männern über Frauen, indem diese als „natürlich“ bezeichnet werden. In der Geschlechterforschung gilt Sexismus als globales Phänomen. Gekennzeichnet ist es von regionalen Unterschieden sowie Differenzen zwischen Religionsgruppen, sozialen Klassen und Generationen.
Der Neosexismus, wie er heute in westlichen Ländern anzutreffen ist, bestreitet, dass Frauen im Westen überhaupt noch diskriminiert werden, und verweist auf deren erfolgte rechtliche Gleichstellung. In den vergangenen Jahrzehnten ist die „Neue Rechte“ außerdem dazu übergegangen, zwischen „unseren“ angeblich durchwegs modernen, emanzipierten Geschlechterverhältnissen und den angeblich ausschließlich traditionell-patriarchalen Verhältnissen unter Migrantinnen und Migranten oder Muslimen zu unterscheiden. Die Soziologin Sara Farris bezeichnet dieses Phänomen als „Feminismus von Rechts“ beziehungsweise als „Femonationalismus“. Und der französische Politologe Éric Fassin schreibt: „der so genannte Kampf der Kulturen wird als ein sexueller neu formuliert.“
PROF. DR. HELMA LUTZ lehrt Frauen- und Geschlechter-forschung an der Goethe-Universität in Frankfurt (a.M). Seit 2015 ist sie geschäftsführende Direktorin des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse. Ihr Beitrag basiert auf der Eröffnungsrede, die sie auf der Jahrestagung des "Rats für Migration" in Berlin gehalten hat. Unter dem Hashtag #4genderstudies findet am Montag, dem 18. Dezember 2017, ein Aktionstag im Netz für das Fach Gender Studies statt.
Die Berichterstattung über die Silvesternacht von Köln 2015/2016 bot dafür ein gutes Beispiel. Sie war in ihrer Reichweite sicher einzigartig: Ob in der New York Times oder der BBC, ob in Sydney oder Buenos Aires – überall wurde über die „massenhaften sexuellen Übergriffe durch Flüchtlinge“ geschrieben.
Manche verglichen das Ereignis von Köln sogar mit den Vergewaltigungen durch (womöglich vom ägyptischen Regime gedungenen) Gruppen während des „Arabischen Frühlings“ auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Diese Gleichsetzung folgte dem Schema der Externalisierung, als ob sexuelle Gewalt hierzulande nur von außen käme. Die Ausweisung der Täter wurde folglich als probates Mittel propagiert, um sich von diesem Übel zu befreien.
Idealbild erfolgreicher Männlichkeit ist weltweit verbreitet
Leider liegt zu „Köln“ bislang keine Studie aus der Perspektive der kritischen Männlichkeitsforschung vor. Denn in allen Gesellschaften der Welt gibt es Idealvorstellungen von erfolgreicher Männlichkeit, an denen sich männliches Verhalten orientiert.
„Hegemoniale Männlichkeit", wie sie von weißen Männern im Management, Showbusiness oder im Sport verkörpert wird, strebt nach Dominanz sowohl über Frauen als über marginalisierte und damit untergeordnete Männer. Das kann über strukturelle Dominanz, aber auch über Gewalt und kriminelles Verhalten geschehen. Beispiele dafür finden sich in der Wirtschafts- und Industriekriminalität, in der sexuellen Einschüchterung von Untergebenen oder der Nutzung von Firmenkapital für Bordellbesuche.
Auch marginalisierte Männer, die am Rande der Gesellschaft stehen, orientieren sich an den Standards starker, machtvoller Männlichkeit. Durch Eigentumsdelikte oder sexuelle Übergriffe versuchen manche, sich dem Status hegemonialer Männlichkeit anzunähern. In der Kölner Silvesternacht 2015/16 kam es zu zahlreichen Diebstählen und sexuellen Übergriffen. Betrachten wir „Köln“ aus dieser Perspektive, dann handelt es sich um einen Versuch marginalisierter Männer, sich den Status hegemonialer Männlichkeit mit körperlicher und krimineller Gewalt „zurückzuerobern“.
Sexuelle Gewalt als Ausdruck einer "fremden Kultur"?
In diesen Tagen beschäftigen sich die Medien der Welt wieder mit sexuellen Übergriffen durch Männer, Stichwort: #MeToo. Aber während sich die Debatte seit dem Fall des Hollywood-Moguls Harvey Weinstein um Männer in angesehenen Positionen dreht, die ihre Macht für sexuelle Übergriffe missbrauch(t)en, kreiste die andere pauschal um männliche Migranten (insbesondere aus muslimischen Ländern) und deren vermeintliche „Kultur“, die pauschal als patriarchal geprägt gilt. Wenden sie Gewalt an, wird das als Ausdruck ihrer „fremden“ Kultur, nicht ihrer Geschlechtszugehörigkeit wahrgenommen. Zugleich wird eine grundlegende Differenz behauptet zwischen diesen „hypermaskulinen Fremden“ und den Männern der Mehrheitsgesellschaft, die als weiblicher Emanzipation gegenüber mehrheitlich aufgeschlossen und tolerant angesehen werden.
Der Zusammenhang zwischen subtilen Formen des Sexismus, manifesten Handgreiflichkeiten und sexueller Nötigung wurde hierzulande lange von vielen bagatellisiert und ignoriert. Erst nach den verbalen Entgleisungen des FDP-Politikers Rainer Brüderle gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich kam es darüber 2013 zu einer Debatte. Der Hashtag #Aufschrei rief ins Gedächtnis, dass Sexismus und sexuelle Gewalt auch in Deutschland keine Ausnahme, sondern Normalität sind.
Der Hashtag #ausnahmslos und der Generalverdacht
Nach der Silvesternacht von Köln versuchten Anne Wizorek, Jasna Strick und Keshia Fredua-Mensah unter dem #ausnahmslos darauf aufmerksam zu machen, dass hier eine spezifische Tätergruppe in besonderer Weise markiert wurde, während andere weiterhin im Schatten blieben. Doch diese Debatte verlief im Sande. Und auch in der Debatte um #MeToo werden keine Parallelen zu den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht gezogen. „Weinstein“ und „Köln“ werden nicht zusammen gedacht. Während die sexuelle Gewalt der Straftäter von Köln ihrer „Kultur“ zugeschrieben wurde, werden vergleichbare Übergriffe respektabler und mächtiger Männer der westlichen Welt als „Ausnahmen“, „Ausrutscher“ und einmaliges Fehlverhalten banalisiert, und es wird vor „Hysterie“ und „Prüderie“ gewarnt.
Die Debatte um „Köln“ hatte dagegen handfeste Folgen. Sie hat zur Mobilisierung und Verhärtung im rechten politischen Spektrum beigetragen und viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert. Als Folge von Köln stehen als „muslimisch“ markierte junge Männer unter Generalverdacht. Sie müssen sich im Alltag vermehrt mit Angst, Aggression und Ablehnung durch die Mehrheitsbevölkerung auseinandersetzen und stehen unter Druck, die von ihnen angeblich ausgehende Gefahr entkräften zu müssen.
Die "fremde" Sexualität stützt das eigene Selbstbild
Analog zur Stigmatisierung von männlichen „muslimischen“ Migranten als latenter Gefahr hat es sich etabliert, Migrantinnen – insbesondere aus muslimischen Ländern – in erster Linie als Opfer patriarchalischer Herrschaftsverhältnisse ihrer Herkunftskulturen wahrzunehmen. Dass Migrantinnen auch Opfer von Rassismus sein können, wird dabei ausgeblendet. Auch dieses Narrativ ermöglicht Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft eine positive Selbstaufwertung. Oder, wie es die Politologinnen Maria do Mar Castro-Varela und Nikita Dhawan formulieren: die Figur der „emanzipierten westlichen Frau“ benötigt ein Alter Ego - eine „unterdrückte Andere, um Befreiung überhaupt denken und leben zu können“.
Diese Wahrnehmung von migrantischer Weiblichkeit und Männlichkeit als „anders“ oder gar „feindlich anders“ hat in vielen westlichen Gesellschaften eine Kernfunktion für die Definition des Selbst erhalten. Mit den Worten von Umberto Eco: „Einen Feind zu haben, ist nicht nur wichtig um die eigene Identität zu definieren, sondern auch, um sich ein Hindernis aufzubauen, an dem man das eigene Wertesystem demonstrieren und durch dessen Bekämpfung man das eigene Wertesystem beweisen kann.“
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