Personalmangel, Überstunden, zu wenig Zeit für Pflegebedürftige: Das Pflegesystem in Deutschland gilt als überlastet. Und die Missstände dürften sich weiter verschärfen. Denn während die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, geht das Angebot an Pflegekräften zurück. Viele Betreiber von Pflegeeinrichtungen versuchen daher verstärkt, Einwanderer als Mitarbeiter zu gewinnen – auch die im Pflegesektor sehr aktiven christlichen Verbände Caritas und Diakonie. Gleichzeitig wollen sie ihr Angebot stärker für Senioren mit Migrationsgeschichte öffnen. Doch wie kann das gelingen? Sind die Einrichtungen ausreichend auf Vielfalt eingestellt?
Die Sozialwissenschaftlerin Aleksandra Lewicki von der Freien Universität Berlin hat dazu eine Studie durchgeführt. Hierfür hat sie 20 Führungskräfte aus Pflegeeinrichtungen befragt, die von der Caritas und Diakonie betrieben werden, sowie 15 Experten interviewt. In einer Expertise für den MEDIENDIENST fasst Lewicki exklusiv zentrale Ergebnisse ihrer Untersuchung zusammen.
Die Expertise können Sie HIER herunterladen.
Welche Karrierechancen haben nicht-christliche Pflegekräfte?
Bei der Beschäftigung von Personal gelten für Kirchen in Deutschland Sonderregelungen: Laut dem sogenannten Selbstbestimmungsrecht dürfen sie von ihren Beschäftigten weltanschauliche Loyalität verlangen. Das heißt: Sie haben das Recht, christliche Bewerber zu bevorzugen. Dieses „Diskriminierungsprivileg“ sei in Europa einmalig, schreibt Lewicki.
Die Caritas und Diakonie machten zwar nicht durchgehend von diesem Recht Gebrauch. Sie stellten durchaus Pflegekräfte ein, die keine Christen sind. Doch die Verbände bieten nicht-christlichen Kollegen keine gleichwertigen Arbeitsbedingungen: Der berufliche Aufstieg oder bisweilen die Entfristung werden ihnen verwehrt – es sei denn, sie erklären sich bereit, zum Christentum zu konvertieren, so die Autorin.
Die Führungskräfte, die Lewicki befragt hat, erzählten von hochqualifizierten muslimischen Mitarbeitern, die lange befristet angestellt waren, weil sie nicht entfristet werden konnten. In einigen Fällen sei es daher zu „Taufen“ gekommen: Muslimische Pflegekräfte traten formal der christlichen Kirche bei, weil sie keine andere Möglichkeit sahen, ihr Arbeitsverhältnis zu stabilisieren.
Wie offen sind Einrichtungen für Senioren mit Migrationsgeschichte?
Aus Studien geht hervor, dass Einwanderer gesetzliche Pflegeleistungen vergleichsweise selten in Anspruch nehmen – auch, weil viele nicht wissen, welche Leistungen ihnen zustehen. Laut Lewicki sind die Caritas und Diakonie nur halbherzig bemüht, dieses Problem zu beheben: Lediglich einer der befragten Anbieter hatte ein Projekt gestartet, um Menschen mit Migrationsgeschichte über sein Angebot zu informieren.
Die Expertise zeigt auch, dass das Personal in Pflegeeinrichtungen mitunter Vorbehalte gegenüber Minderheiten hat – vor allem gegenüber Muslimen. So unterstellten viele der befragten Führungskräfte Muslimen eine höhere Konfliktbereitschaft oder beschrieben die Werte der islamischen Religion als „ganz anders“. Laut Lewicki hat das unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeit mit Pflegebedürftigen. Das Personal könne sich in diesen Fällen nicht mit der üblichen professionellen Fürsorge auf die Senioren einlassen.
Die Caritas und Diakonie hätten sich zwar sehr engagiert in die Debatten um interkulturelle Öffnung in der Pflege eingebracht. Die Konzepte, die Mitarbeiter für die Bedürfnisse von Minderheiten sensibilisieren und Diskriminierungen entgegenwirken sollen, würden jedoch kaum in die Praxis umgesetzt.
Welche Reformen wären nötig?
Um Diskriminierungen in der Seniorenpflege vorzubeugen, schlägt die Autorin mehrere Reformen vor. Die Arbeitsbedingungen im Pflegesektor müssten verbessert werden. Darüber hinaus sei das "Diskriminierungsprivileg", das kirchliche Arbeitgeber haben, nicht haltbar. Artikel 9 des "Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes" müsse daher reformiert werden.
Auch Pflegebedürftige mit Migrationsgeschichte müssten besser vor Diskriminierungen geschützt werden. Das erfordere jedoch nicht nur gesetzliche Reformen, sondern auch stärkere Bemühungen auf Seiten der Wohlfahrtsverbände: Die Prävention von Diskriminierung müsse in der Debatte in den Mittelpunkt rücken, so Lewicki. Zudem seien die Verbände gefordert, neue Wege zu finden, um Senioren aus Einwandererfamilien den Zugang zu ihren Einrichtungen zu erleichtern.
Von Jennifer Pross
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