Dieser Artikel ist erstmals im Juli 2018 erschienen. Aus aktuellem Anlass präsentieren wir ihn erneut.
Am 13. Juli 1998 wurde die Lehrerin Fereshta Ludin in Baden-Württemberg nicht in den Schuldienst übernommen, weil sie ein Kopftuch trug. Damit begann der sogenannte "Kopftuchstreit". Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2003 führten mehrere Bundesländer Verbotsregelungen für Lehrerinnen ein. Nachdem Karlsruhe in einem neuen Urteil 2015 erklärt hatte, ein pauschales Verbot sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, schafften mehrere Länder ihre Verbote ab.
Wie sehen die rechtlichen Regelungen in Deutschland derzeit aus? Wie wirken sich Verbote auf die Betroffenen aus? Und wie lässt sich ihre berufliche und gesellschaftliche Teilhabe verbessern? Diesen Fragen sind Soraya Hassoun, Maziar Taymoorzadeh und Gökce Yurdakul vom Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin in einer Expertise für den MEDIENDIENST nachgegangen.
Die Wissenschaftler geben einen Überblick, in welchen Bereichen das Tragen eines Kopftuchs derzeit verboten ist, fassen den Forschungsstand zur Benachteiligung muslimischer Frauen am Arbeitsmarkt zusammen und geben konkrete Handlungsempfehlungen, um deren Teilhabe zu verbessern.
Die Expertise können Sie hier herunterladen.
Welche Auswirkungen haben "Kopftuch-Verbote"?
In mehreren Bundesländern gibt es inzwischen Lehrerinnen, die mit Kopftuch unterrichten. Wie viele es genau sind, wird von den Kultusministerien der Länder nicht erhoben. Eine Dokumentation des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags kam im Jahr 2017 aber nur auf wenige Einzelfälle. Den Autoren der Expertise zufolge haben die bis 2015 geltenden Verbote viele Frauen, die ein Kopftuch tragen, davon abgehalten, ein Lehramts-Studium aufzunehmen.
Berlin hält als einziges Bundesland an seinem „Neutralitätsgesetz“ für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen und Beamte im öffentlichen Dienst fest. In einigen anderen Bundesländern sind neue Beschränkungen für den Justizbereich hinzu gekommen, die muslimischen Frauen mit Kopftuch den Zugang zum Beruf der Richterin oder Staatsanwältin verwehren.
Die Verbote im öffentlichen Dienst strahlen auch auf den privaten Arbeitsmarkt aus, wenn sich Arbeitgeber am staatlichen Vorbild orientieren. Wenn sie muslimischen Frauen jedoch allein aufgrund ihres Kopftuchs eine Anstellung verweigern, verstoßen sie gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
Muslimische Frauen mit Kopftuch besonders von Diskriminierung betroffen
Studien belegen, dass muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, besonders stark von Diskriminierung betroffen sind. Eine Untersuchung des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) von 2016 ergab, dass sich Frauen mit Kopftuch und türkischem Namen viermal so oft bewerben müssen wie andere Frauen, um zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden.
In qualitativen Tiefeninterviews mit muslimischen Frauen, von denen manche ein Kopftuch trugen, wurden diese auch nach ihren Diskriminierungserfahrungen befragt. In der Auswertung für den MEDIENDIENST werden die spezifischen Situationen bei der Bewerbung, in der Ausbildung und am Arbeitsplatz deutlich.
Die gesetzlichen Vorschriften stellen in den Augen vieler der befragten Frauen die größte Hürde dar. Ihre persönlichen Erfahrungen reichen darüber hinaus über subtile Vorurteile und Ausgrenzungen bis hin zu offensichtlich antimuslimischen Einstellungen, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Alle zusammen stellen eine massive Einschränkung der Chancengleichheit und des Rechts auf diskriminierungsfreie Teilhabe dar, urteilen die Forscher.
Wie kann die Teilhabe sichtbar muslimischer Frauen verbessert werden?
Die Wissenschaftler empfehlen:
1. Bestehende Kopftuchverbote sollten aufgehoben und keine neuen verhängt werden
Verstehe man unter Integration Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe, verhinderten die bestehenden Verbote die Integration muslimischer Frauen, die ein Kopftuch tragen. Der Ausschluss sichtbar muslimischer Frauen aus bestimmten Berufen, verhindert ihre finanzielle Eigenständigkeit und Unabhängigkeit und steht damit im Widerspruch zu (feministischen) Forderungen nach Gleichberechtigung. Dass sich die Lebensumstände von Frauen, die zum Tragen eines Kopftuchs gezwungen werden, durch Verbote verbessern sei wissenschaftlich nicht erwiesen. Die bestehenden Verbote sollten abgeschafft werden.
2. Maßnahmen gegen Diskriminierung sollten erweitert werden
Die geltenden Antidiskriminierungsgesetze reichten nicht aus. Sie müssten bekannter gemacht und den betroffenen Frauen müsse Hilfe angeboten werden. Zudem brauche es mehr Gegenstrategien, um Diskriminierung aktiv zu bekämpfen. Rechtspopulistische Gruppen und Parteien tragen ebenfalls zur Ausgrenzung muslimischer Frauen bei, betonen die Wissenschaftler. Ihnen müsse entschieden entgegen getreten werden.
3. Forschung zum Thema sollte vorangetrieben werden
Zum Ausmaß und den Dimensionen der Diskriminierung muslimischer Frauen, die ein Kopftuch tragen, brauche es mehr Forschung. Aber auch andere Gründe, die ihrer gesellschaftlichen Teilhabe im Wege stehen, sollten stärker beleuchtet werden, fordern die Wissenschaftler.
4. Teilhabe muslimischer Frauen sollte gefördert werden
Muslimischen Frauen sollte ganz allgemein der Zugang zu Bildung und Erwerbstätigkeit erleichtert werden. Barrieren, die ihrer gesellschaftlichen Teilhabe im Weg stehen, gelte es abzubauen.
Länder wie Großbritannien, Schweden und Kanada könnten dabei Vorbild sein. Dort dürfen Beamte im Dienst auch Turban, Kopftuch oder jüdische Kippa als Teil ihrer Uniform tragen.
Zusammenfassung: Daniel Bax
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