Nach der Tat von Kandel kamen Zweifel am Alter des mutmaßlichen Täters auf. In der Folge entbrannte eine politische Debatte um die Alterseinschätzung, die im Rahmen der Aufnahme von jungen Geflüchteten stattfindet. Auch die Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD blieben von dem Thema nicht unberührt.
Wie läuft die "Altersfeststellung" bisher ab?
Seit 2015 regelt das "Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher" das Verfahren zur Alterseinschätzung: Wer allein nach Deutschland einreist und angibt minderjährig zu sein, muss zunächst durch das Jugendamt aufgenommen werden. Aktuell sind in Deutschland rund 54.000 unbegleitete minderjährige und junge volljährige Ausländer in der Obhut der Jugendämter. Das teilte das Bundesfamilienministerium dem MEDIENDIENST auf Anfrage mit.
Das Jugendamt ist dafür zuständig, das Alter eines jungen Geflüchteten einzuschätzen. Oft können Flüchtlinge kein genaues Geburtsdatum angeben und haben keine Ausweispapiere bei sich. Um dennoch einschätzen zu können, ob ein Flüchtling minderjährig oder volljährig ist, führt das Jugendamt eine "qualifizierte Inaugenscheinnahme" durch. Hierbei handelt es sich vor allem um ein Gespräch. Mitarbeiter des Jugendamtes fragen zum Beispiel nach der Familie, dem bisherigen Schulbesuch und dem Fluchtweg. An dieser "qualifizierten Inaugenscheinnahme" nehmen der Flüchtling, ein Dolmetscher und immer zwei Mitarbeiter des Jugendamtes teil. Am Ende müssen sie entscheiden, ob ein junger Geflüchteter als minderjährig einzuschätzen ist oder nicht.
Bestehen trotz "qualifizierter Inaugenscheinnahme" Zweifel am Alter eines jungen Geflüchteten, kann schon heute eine ärztliche Untersuchung zur Alterseinschätzung beantragt werden. Zu diesen Untersuchungen zählt zum Beispiel das Röntgen der Handwurzelknochen.
Wie verlässlich sind medizinische Untersuchungen?
Eigentlich ist das Verfahren zur Alterseinschätzung laut aktuellem Gesetz einheitlich geregelt. "Die Umsetzung gestaltet sich aber von Kommune zu Kommune unterschiedlich", sagt Franziska von Nordheim vom Bundesfachverband unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (BumF). An einigen Orten würden Jugendämter verhältnismäßig oft nach der "qualifizierten Inaugenscheinnahme" immer noch Zweifel an der Minderjährigkeit eines jungen Geflüchteten haben und deswegen eine ärztliche Untersuchung anordnen.
Politiker forderten zuletzt, die Altersfeststellung von jungen Flüchtlingen neu zu regeln und flächendeckende ärztliche Untersuchungen einzuführen. Die medizinischen Alterstests sind jedoch umstritten. So lehnte der Präsident der Bundesärztekammer Medienberichten zufolge "einen obligatorischen Alterstest grundsätzlich ab". Ohne medizinische Indikation zu röntgen, sei ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Auch NGOs wie der Bundesfachverband unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge und das Deutsche Kinderhilfswerk haben sich gegen eine Neuregelung zur medizinischen Alterseinschätzung ausgesprochen.
"Der Begriff 'Altersfeststellung' suggeriert, es gäbe eine Methode, mit der man das Alter eines jungen Menschen zweifelsfrei bestimmen könnte", erklärt Franziska von Nordheim vom BumF. Aber weder durch die "qualifizierte Inaugenscheinnahme" noch durch eine medizinische Untersuchung könne ein Alter sicher festgelegt oder gar ein Geburtsdatum bestimmt werden. Auch durch eine medizinische Untersuchung sei daher nur eine Einschätzung möglich.
In den Sondierungsgesprächen haben Union und SPD vereinbart, dass Asylsuchende zunächst in zentrale "Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen" kommen sollen. Hier soll ihre Identität – Name, Herkunft und Alter – "umfassend" festgestellt werden. Auch junge unbegleitete Minderjährige sollen hier untergebracht werden, bevor sie in Obhut eines Jugendamtes kommen. Was das für die "Altersfeststellung" bedeutet, lässt sich noch nicht sagen.
Welche Bedeutung hat die "Altersfeststellung" für Flüchtlinge?
Von der Alterseinschätzung hängt für junge Geflüchtete viel ab. Sie entscheidet über den Zugang zu Kinder- und Jugendhilfe, kindeswohlgerechter Unterbringung und Bildung. In der Debatte um die "Altersfeststellung" junger Geflüchteter wurde der Vorwurf laut, viele würden durch falsche Angaben staatliche Leistungen erhalten, die ihnen sonst nicht zustünden. Dagegen spricht jedoch, dass jungen Geflüchteten auch über das 18. Lebensjahr hinaus Jugendhilfe zusteht.
"Das biologische Alter ist nicht das entscheidende Kriterium. Entscheidend ist die Frage nach dem realen Unterstützungsbedarf", sagt der Migrationsforscher und Soziologe Albert Scherr zur aktuellen Debatte. Im Fokus müsse die Frage stehen, welche Hilfe ein junger Mensch braucht – unabhängig davon, ob jemand 17 oder 19 Jahre alt ist.
Wenn aber jemand aus der Jugendhilfe herausfällt und keine Unterstützung mehr bekommt, sei das kontraproduktiv. Das zeige sich zum Beispiel in der Ausbildung, erklärt Albert Scherr. Hier sei zu beobachten, dass viele junge Geflüchtete im praktischen Teil der Ausbildung gut zurechtkommen, in der Schule aber zusätzliche Unterstützung brauchen. Eine Betreuung auch nach dem 18. Geburtstag könne helfen, Bildungsabbrüche zu vermeiden.
Von Lea Hoffmann
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