MEDIENDIENST: Amadeu Antonio Kiowa war eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung. Wie hat die Politik damals auf den Mord reagiert?
Anetta Kahane: Der Vorfall ereignete sich kurz nach der Wende – zu einer Zeit, die von Chaos und Ungewissheit geprägt war. Sowohl die Polizei als auch die Politik waren mit dem Anstieg rechtsextremer Gewalt überfordert und haben zum Teil tatenlos zugesehen. Die zuständige Polizeipräsidentin hat nach dem Fall versucht, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, und wurde dafür stark angefeindet. Rassismus und Rechtsextremismus wurden nicht als ernstzunehmende Probleme wahrgenommen. Man kann also sagen, dass die Politik damals versagt hat.
Und die Zivilgesellschaft?
In Berlin gab es viele Gruppen, die den Mord – auch wegen der räumlichen Nähe zum Tatort – thematisiert und eine Aufklärung eingefordert haben. Der Fall hat daraufhin bundesweit Aufsehen erregt. Amadeu Antonio war zwar nicht das erste Todesopfer rechter Gewalt nach der Wende, ist aber quasi symbolisch als solcher ins Gedächtnis eingegangen.
Hat sich der Umgang mit Rassismus und Rechtsextremismus seitdem verändert?
Ja, weite Teile der Politik und Gesellschaft gehen heute anders mit dem Problem um als in den frühen 90er Jahren. Rechte Gewalt wird nicht mehr als Banalität gesehen und die Gesellschaft hat ein viel klareres Verständnis davon, was Unrecht ist. Auch die öffentliche Debatte über Rechtsextremismus ist an einem anderen Punkt: Damals haben wir und andere Initiativen dagestanden wie die Trottel, wenn wir vor Neonazis gewarnt haben. Heute ist das anders. Rassismus wird als Problem erkannt und es gibt eine öffentliche Auseinandersetzung darüber.

ANETTA KAHANE ist Mitgründerin und Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung (AAS), die zivil-gesellschaftliche Initiativen bei der Arbeit gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus unterstützt. Zuvor war sie Geschäftsführerin bei den "Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie" (RAA).
Woran liegt es, dass das Thema heute anders behandelt wird?
Anfang der 90er Jahre gab es keine zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich rassistischer Gewalt entschieden entgegengestellt hätten. Meist waren es Einzelpersonen oder kleinere Gruppen, die sich für die Rechte von Migranten eingesetzt haben. Die Amadeu Antonio Stiftung wurde damals mit dem Ziel gegründet, diese Gruppen zusammenzubringen und zu stärken, sie dazu zu ermutigen, sich in den Diskurs einzubringen und politische Debatten mitzubestimmen. Das und viele andere Faktoren haben dazu geführt, dass es heute eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Projekte und Initiativen gibt, die sich sehen lassen kann und Wirkung zeigt. Es gibt aber nach wie vor großen Handlungsbedarf.
Welchen Handlungsbedarf sehen Sie?
Seit unserer Gründung versuchen wir, Polizisten, Staatsanwälte und Richter für das Thema zu sensibilisieren, damit rechtsextreme Straftaten als solche erkannt und geahndet werden. Hier hat sich in den letzten Jahren schon viel getan. Die Prozesse verlaufen aber schleppend. Das zeigt zum Beispiel die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt: Staatliche Behörden dokumentieren hier nach wie vor deutlich weniger Fälle als zivilgesellschaftliche Initiativen. Was die derzeitigen Ausschreitungen vor Flüchtlingsunterkünften betrifft: Es ist pures Glück, dass es in diesem Jahr noch keine Todesopfer gegeben hat. Das Ausmaß an Aggressivität und Hass, das wir dort beobachten können, ist besorgniserregend.
Wie berichten die Medien heute über rechte Gewalt und was hat sich im Vergleich zu den 90er Jahren geändert?
Damals wurde seltener und sehr viel tendenziöser über das Thema berichtet als heute. In den Redaktionen wurde mit den Augen gerollt, wenn jemand über Nazis schreiben wollte. Bei den Pogromen von Rostock und Hoyerswerda haben viele Medien nicht zur Versachlichung der Debatte beigetragen, sondern die Stimmung weiter angeheizt. Das ist heute anders. Die meisten Medien berichten wohlwollend über Flüchtlinge und setzen sich auch mit Rassismus auseinander. Das liegt sicherlich auch daran, dass sich die Bevölkerungsstruktur verändert hat. Migranten und ihre Nachkommen sind heute selbstverständlicher Teil der Gesellschaft und werden auch von immer mehr „Biodeutschen“ als solcher gesehen. Da sind wir einfach 20 Jahre weiter.
Interview: Jennifer Pross
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