Nimmt die Zahl der Messerangriffe seit Jahren zu? Aus der Berichterstattung könnte man diesen Eindruck gewinnen. Untersuchungen zufolge berichten Journalist*innen häufiger über Gewaltkriminalität - insbesondere, wenn sie von ausländischen Tatverdächtigen verübt werden.
Messerattacken sind auch immer wieder Gegenstand politischer Diskussionen über mögliche Konsequenzen. Der Angriff im Regionalzug bei Brokstedt Anfang des Jahres zog eine Debatte über Messerverbotszonen nach sich.
Doch eindeutige Zahlen, die einen Anstieg von Messerangriffen belegen würden, gibt es nicht: Zehn von 16 Bundesländern erheben Daten zu Straftaten mit Messern. Daraus lässt sich jedoch keine eindeutige Tendenz ableiten. In Berlin beispielsweise ist die Zahl der Messerangriffe 2022 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, in Nordrhein-Westfalen nahm sie hingegen ab.
Auf einem Pressegespräch des MEDIENDIENST INTEGRATION sprachen Fachleute über die Daten- und Forschungslage und gaben Einblicke, wie in Redaktion und der polizeilichen Pressestelle entschieden wird, ob und wann die Herkunft eines Tatverdächtigen berichtet wird.
Prof. Dr. Thomas Hestermann: Dozent für Journalismus an der Hochschule Macromedia in Hamburg
Die Berichterstattung zu Messerattacken ist im Verhältnis zur Anzahl der Vorfälle verzerrt, vor allem was das besondere Interesse für ausländische Tatverdächtige angeht: Wann immer in den von uns analysierten Presseberichten die Herkunft eines Tatverdächtigen genannt wurde, handelte es sich fast ausnahmslos um ausländische Staatsangehörige - in nur einem Bericht wurde explizit ein deutscher Täter erwähnt.
Das gesteigerte Interesse der Medien für Gewalttaten von ausländischen Tatverdächtigen ist auch dadurch zu erklären, dass Rechtspopulist*innen den 'Messermigranten' als Angstfigur entdeckt haben. Auch wenn Redaktionen in den meisten Fällen drastische Formulierungen einiger AfD Politiker*innen nicht direkt übernehmen: Sie sollten sich in ihrer Abwägung, ob sie die Herkunft eines Täters überhaupt berichten, von der Frage leiten lassen, ob sie für den Tathergang erheblich ist. Denn Berichterstattung hat reale Konsequenzen: Die ‚gefühlte Sicherheit‘ von Menschen wird auch davon beeinflusst, was sie in den Medien lesen und kann zur Folge haben, dass sie bestimmte Menschengruppen meiden.
Miriam Scharlibbe: Chefredakteurin Content und Entwicklung beim Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag
Im Fall der Messerattacke im Zug bei Brokstedt wollten wir schnell berichten, denn die Menschen aus der Region waren auf die Informationen angewiesen. Wir entschieden uns, in den ersten Meldungen die Migrationsgeschichte des Tatverdächtigen nicht zu nennen. Das änderte sich, als deutlich wurde, dass der Lebensweg des Tatverdächtigen maßgeblich durch seine Migrationsgeschichte geprägt und auch für den Hergang der Gewalttat entscheidend war. Das ergaben inzwischen ausreichend gesicherte Informationen, auch durch unsere eigenen, intensiven Faktenchecks. In der Redaktion gibt es generell unterschiedliche Meinungen zur Frage, ob und wann wir die Herkunft des Tatverdächtigen nennen sollen - auch in diesem Fall. Wir haben dann gemeinsam Formulierungsvorschläge erarbeitet und unseren Leser*innen in verschiedenen Formaten erklärt, wie wir als Redaktion diese Frage abwägen. Von einigen Leser*innen haben wir gehört, dass sie das hilfreich fanden.
Beate Ostertag: Pressesprecherin der Polizei Berlin, zuvor Kriminalbeamte beim Landeskriminalamt
Die Polizei Berlin erfasst seit 2019 Messerdelikte. Letztes Jahr gab es rund 3.000 Messerattacken, in den meisten Fällen wurde das Messer zur Drohung eingesetzt. Für Pressemitteilungen zu Gewalttaten hält sich die Berliner Polizei an den Pressekodex und nennt die Herkunft von Tatverdächtigen in der Regel nicht. Journalist*innen fragen diese aber oft gezielt bei uns an. Auch Parteien wie etwa die AfD stellen häufig Anfragen zum Thema - beispielsweise zu den Vornamen von Tatverdächtigen von Messerattacken. Dabei liegen seit Jahren immer 'deutsch klingende Namen' vorne: Im Jahr 2021 waren an der Spitze 'Alexander', 'Christian' und 'David', 'Mohammed' folgte auf Platz vier. Diese Namen geben aber überhaupt keinen Aufschluss über die Tathintergründe. Trotzdem werden die Messerattacken von nicht-deutschen Tatverdächtigen regelmäßig in den Medien aufgegriffen, ohne die notwendige Einbettung.
Elena Rausch: Kriminologin an der Kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder
Das Bundeskriminalamt erfasst in seinem jährlichen Bundeslagebild Delikte mit dem Messer erst seit zwei Jahren; daraus kann man jedoch keine Trends ableiten, da jeweils unterschiedlich gezählt wurde. Von den Bundesländern werten nur einige Messerdelikte aus, zudem nutzen sie unterschiedliche Definitionen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik erfasst Messerattacken für andere Zeiträume. Eine aussagekräftige Datenlage ist aber wichtig, wenn man mit gezielten politischen Maßnahmen gegensteuern will: Es macht ja einen Unterschied, ob mehr Tötungsdelikte oder Drohungen mit dem Messer verübt werden. Andernfalls ist die Gefahr, dass Berichterstattung und Politik sich nach ‚gefühlten Realitäten' oder Ängsten richten.
Von Martha Otwinowski
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