Brauchen Christen im aktuellen Bürgerkriegs-Syrien mehr Schutz als muslimische Syrer? Hans-Peter Friedrich (CSU) löste vor einigen Wochen mit einer bejahenden Bemerkung Kritik aus. Nun hat das Bundesinnenministerium (BMI) die Äußerungen relativiert. Der Minister habe nie gesagt, „dass nur Christen einem besonderen Verfolgungsdruck ausgesetzt sind“, sagte ein Sprecher des Minsteriums dem Mediendienst. Zudem sei religiöse Verfolgung für die Auswahl der Flüchtlinge nur eines von vielen Kriterien.
Doch die Debatte um die Frage steht im Raum. Der Sprecher des BMI stellte klar, dass laut Aufnahmeprogramm nicht nur Christen, sondern „grundsätzlich Angehörige aller religiösen Minderheiten“ Schutz erhalten könnten. Dazu müsse „im Einzelfall eine spezifisch religionsbezogene Verfolgungssituation vorliegen beziehungsweise vorgelegen haben“. Ausgewählt werden die Flüchtlinge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gemeinsam mit dem BMI und auf Vorschlag des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR).
Verteilung der Konfessionen in Syrien
- Die Mehrheit sind sunnitische Muslime – rund 74 Prozent der Bevölkerung sind Sunniten.
- Die Minderheit der Christen wird in Syrien auf rund 10 Prozent der Bevölkerung geschätzt.
- Zu religiösen Minderheiten zählen neben christlichen Konfessionen auch muslimische Glaubensrichtungen wie Alawiten, Schiiten sowie Ismailiten. Sie machen gemeinsam rund 13 Prozent aus. Aus der Minderheit der Alawiten, zu denen der Clan des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gehört, rekrutiert sich allerdings ein wesentlicher Teil der politischen Elite.
- Zu den kleineren religiösen Minderheiten gehören Drusen, Jesiden und Juden.
Die meisten Asylsuchenden aus Syrien sind Muslime
Der seit 2011 andauernde Syrien-Konflikt hat laut UN-Angaben bislang mindestens 93.000 Tote gefordert, mehr als 1,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die konfessionellen Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse spiegeln sich in diesen Flüchtlingszahlen wider. So sind bislang aus Syrien mehrheitlich Muslime nach Deutschland geflüchtet. Unter den 6.200 syrischen Asylbewerbern (Erstanträge) des vergangenen Jahres waren laut Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 56 Prozent Muslime, 15 Prozent Christen und ein Viertel bezeichnete sich als Jesiden.
Gibt es einen "besonderen Verfolgungsdruck" auf Christen?
"Religiöse Minderheiten sind im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen häufig Repressalien ausgesetzt, die eine besondere Schutzbedürftigkeit auslösen. Dies ist jedoch nicht auf Christen beschränkt“, so eine Sprecherin des BAMF. Dies bestätigt ein UN-Bericht von Dezember 2012, wonach der syrische Bürgerkrieg zunehmend religiös geprägt ist.
In der Presse ist von einem sunnitisch-schiitischen "Bruderkampf" die Rede, auf den zunehmend auch Saudi-Arabien und Iran Einfluss nehmen. Danach verfestigt sich folgende Wahrnehmung: ein sunnitischer Aufstand (unterstützt von den sunnitischen Golfmonarchien und der Türkei) gegen ein alawitisches Regime und seine schiitischen Bündnispartner (Iran, Hisbollah, die schiitisch dominierte irakische Regierung). Den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten im Nahen Osten beschreibt der Islamwissenschaftler Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einem aktuellen Debattenbeitrag. Mit der Lage der Minderheit der Christen im Bürgerkrieg befasst sich ein Papier des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom März.
Auch laut Amnesty International hat es einen Anstieg religiös motivierter Gewalt insbesondere von den Gegnern Präsidents Baschar al-Assad gegeben. Unter den Betroffenen seien Alawiten, Drusen, schiitische Muslime und Christen.
Verschiedene Standpunkte
Petra Becker, Islamwissenschaftlerin und Politologin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), hat im Dezember 2012 einen Debattenbeitrag zur Kontroverse um die christlichen Syrer veröffentlicht. Darin schreibt sie: „Auch wenn es Bombenanschläge auf Kirchen und in christlichen Wohnvierteln gegeben hat: Christen sind bislang nicht Opfer gezielter Verfolgung von Seiten der Aufständischen. Christen in Syrien leiden vielmehr wie Angehörige anderer Konfessionen vor allem unter der brutalen Gewalt, die das Regime einsetzt, um den Aufstand zu bekämpfen.“
Becker warnt vor möglichen negativen Folgen einer „exklusiven Aufnahme von Christen“. Damit würden Europa und Deutschland der arabischen Welt signalisieren, „dass sie die Christen nicht als originären Bestandteil ihrer Gesellschaften begreifen. Dadurch könnten diese in eine prekäre Lage gebracht werden, anstatt dass ihnen geholfen wird. Dies ist zumindest die Furcht syrischer Christen, die man ernst nehmen sollte. Zudem würde der Westen dann selbst den Konfessionalismus praktizieren, den man in Syrien kritisiert.“
Heiko Wimmen, ihr SWP-Kollege und Nahostexperte und Politologe, bleibt ebenfalls skeptisch. „Von einem besonderen Verfolgungsdruck bei den Christen zu sprechen, halte ich nicht für angemessen", sagt er dem Mediendienst auf Nachfrage. "Das würde eher für die Alawiten gelten, die von den Rebellen kollektiv mit dem Regime identifiziert werden. Bei den Christen gibt es aber eine Gefährdungslage – sie haben, wie andere Minderheiten auch, die Befürchtung, Opfer von Racheakten werden zu können. Zumal die Minderheiten vom Regime umworben wurden. Unter einer möglicherweise islamistischen Herrschaft wären Minderheitenrechte für Christen wohl kaum von Belang."
Zu einer möglichen Bevorzugung von Christen als Flüchtlinge meint Wimmen: „Über die Motivation kann man nur spekulieren. Man kann ja nicht in den Kopf des Innenministers schauen. Allerdings stellt sich schon die Frage, ob es nicht vielleicht doch auch darum geht, islamophoben Tendenzen in der deutschen Öffentlichkeit aus dem Weg zu gehen. Vielleicht meinen die Politiker einer christlichen Partei hierzulande ja, dass sich die Aufnahme christlicher Flüchtlinge beim Wähler besser vermitteln lassen würde, als die Aufnahme anderer."
Bernd Mesovic, Sprecher der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, rät zu einer diffrenzierten Sichtweise. Der besondere Verfolgungsdruck sei "regional wohl sehr unterschiedlich, beziehungsweise zurzeit wegen der unübersichtlichen Lage schwer festzustellen.“ Es gebe jedoch Befürchtungen, dass bei einer weiteren Verschärfung des Konfliktes die Gefahr wachse, dass Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften zunehmen und für religiöse Minderheiten wie Christen in einer Nachkriegsordnung kein Platz sein könnte.
Michal Shammas, Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist, schrieb in einem "Zeit"-Artikel, dass er die Haltung ablehne, von "speziellen Gefahren" für syrische Christen zu sprechen. Er warnte vor "einer beschämenden Parteilichkeit" im Umgang mit den syrischen Flüchtlingen, denn diese seien "in der großen Mehrheit sunnitische Muslime und unsere Brüder und Partner in der Heimat".
Madlen Vartian, Rechtsanwältin in Köln und Sprecherin des Christlich-Alevitischen Freundeskreises der CDU, fürchtet um die Zukunft der Christen in Syrien. Die Deutsch-Armenierin hat Verwandte in Syrien, die in die Türkei geflohen sind. "Meine christlichen Verwandten in Syrien haben das Land verlassen, weil sie Übergriffe fürchten. In Syrien steht eine systemische Entscheidung an: In der bisher bestehenden staatlichen Ordnung hatten die Christen einen Ort, sie waren anerkannte Gemeinschaften des Landes." Das Regime sei zwar selbst repressiv, es habe aber den Christen einen Platz in Staat und Gesellschaft gewährt. "Doch es gibt nun unter den Oppositionellen radikale Kräfte, Islamisten, in deren Vorstellungen ein solcher Ort für Christen in einem zukünftigen Syrien nicht vorgesehen ist. Diese Radikalen betrachten Christen als fünfte Kolonne des Westens.
Daniyel Demir, Vorsitzender des Bundesverbandes der Aramäer in Deutschland, schätzt die Lage dramatisch ein. Er hat Anfang des Jahres mit aramäischen Flüchtlingen im Libanon, in der Türkei und in Griechenland gesprochen und Eindrücke gesammelt: „Die Christen geraten mehr und mehr zwischen die Fronten. Mir sind immer wieder brutale Übergriffe geschildert worden. Christliche Augenzeugen in der syrisch-türkischen Grenzstadt Ras Al-Ayn berichteten von geplünderten und verwüsteten Kirchen. Auf den Straßenmauern prangen jetzt Todesdrohungen. Entführungen selbst von ranghohen Erzbischöfen, die bis heute verschleppt sind, richten an die Christen Syriens eine klare Botschaft. Es entspricht der traurigen Wahrheit, wenn von einem besonderen Verfolgungsdruck und einer besonderen Schutzwürdigkeit gesprochen wird.“
Die Kontroverse um die Aufnahme christlicher Flüchtlinge gibt es übrigens schon länger. Bereits 2010 wurde darüber diskutiert, dass der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) Christen aus dem Irak nach Deutschland holen wollte.
Hans-Hermann Kotte
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