MEDIENDIENST INTEGRATION: Herr Sendhardt, in Deutschland leben knapp 800.000 erwachsene Polinnen und Polen, dazu kommen rund 360.000 "Doppelstaatler*innen". Die meisten von ihnen dürften bei der Parlamentswahl am 15. Oktober wahlberechtigt sein. Weltweit leben mehrere Millionen Wahlberechtigte Polinnen und Polen im Ausland. Man schätzt aber, dass nur 400.000 von ihnen wählen werden. Warum so wenige?
Bastian Sendhardt: So wenige sind das gar nicht, bei vorherigen Wahlen lag die Beteiligung der Polinnen und Polen im Ausland noch darunter. Aus deutscher Sicht ist die Wahlbeteiligung in Polen traditionell eher niedrig, für Wähler*innen aus dem Ausland setzt sich diese Tendenz nochmal fort. Ein Grund ist, dass die Polonia (dt.:"Auslands-Polinnen und Polen") weltweit breit verstreut lebt. In vielen Ländern sind es hunderte Kilometer bis zum nächstgelegenen Wahllokal. Der Aufwand, der mit einer Anreise und stundenlangem Anstehen verbunden ist, wirkt auf einige abschreckend.
Wie viele Polinnen und Polen in Deutschland leben und welchen Parteien sie zuletzt ihre Stimme gaben, steht im MEDIENDIENST-Factsheet. Darin finden sich auch Details zu den umstrittenen, diesjährigen Vorschriften für Auslands-Wähler*innen. LINK
Eine Lösung wäre die Briefwahl. In anderen Wahljahren konnten polnische Auslands-Wähler*innen so abstimmen, dieses Mal nicht. Kritiker*innen sehen darin den Beleg, dass die Regierung die Wählerzahlen im Ausland möglichst niedrig halten will - auch, weil die "Polonia" zuletzt mehrheitlich eher für Oppositionsparteien stimmte. Wie sehen Sie das?
In Polen ist die Briefwahl verhältnismäßig neu, es gibt sie erst seit 2011. Sie ist also längst nicht so verankert wie in Deutschland, wo zuletzt rund die Hälfte der Wähler*innen von der Möglichkeit Gebrauch machte. Auch in Deutschland hat es Jahrzehnte gedauert, bis sich die Briefwahl wirklich etabliert hat. In Polen sind die Vorbehalte größer, es könne so zu Wahlmanipulation kommen. Das liegt auch daran, dass dort das Vertrauen in Institutionen geringer ist. Die polnische Post etwa gilt in den Augen vieler Wähler*innen nicht gerade als vertrauenswürdig. Insofern war die Briefwahl als Ausnahme vorgesehen. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 war das natürlich anders, die wurde Pandemie-bedingt nur per Briefwahl abgehalten.
Der Diplom-Politikwissenschaftler Bastian Sendhardt ist seit 2020 am Deutschen Polen-Institut (DPI) im Büro Berlin tätig. Im Hinblick auf die anstehende Parlamentswahl in Polen analysierte er für dieses Jahr die Rolle der polnischen Auslands-Wählerinnen und Wähler. Er publizierte auch schon zu Polens Diasporapolitik.
Die Briefwahl ist bei Weitem nicht der einzige Aufreger. Einige befürchten, dass Stimmen der polnischen Auslands-Wähler*innen verfallen könnten. Das droht nämlich, wenn ausländische Wahllokale nicht innerhalb von 24 Stunden alle Stimmzettel ausgezählt und an Warschau übermittelt haben.
Die Frist an sich ist auch nichts Neues. Neu ist diesmal nur, dass jedes Mitglied der Wahlkommission alle Stimmzettel sehen muss, dadurch dauert die Auszählung natürlich länger.
Warum diese Änderung?
Das Regierungslager würden sagen: Ein Mehraugenprinzip schafft Transparenz. Kritiker argumentieren, es gehe vor allem darum, die Stimmen der Polonia genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die Regierung hat parallel zur Parlamentswahl ein Referendum anberaumt. Auch dadurch wird sich die Auszählung wohl in die Länge ziehen für Wahllokale, die ohnehin schon alle Hände voll zu tun haben werden. Wie gravierend ist die Lage Ihrer Einschätzung nach?
Das Referendum sollte da nicht so stark ins Gewicht fallen, da sich die 24-Stundenfrist aus dem Wahlkodex nur auf für Parlaments- und Präsidentschaftswahlen beziehtAnm.d. Redaktion: Eine Für den 15. Oktober hat die Wahlkommission schon verlautbaren lassen, dass die Stimmzettel für die Parlamentswahl vorrangig ausgezählt werden sollen.
Um die Wahlvorschriften gibt es viel Diskussion, die auch nachvollziehbar sind: Aus Sicht der Polonia ist der Wunsch, dass die eigene Stimme zählt, absolut verständlich. Letztlich gibt es, was die Stimmen der Auslands-Pol*innen angeht, aber ein anderes, viel größeres Problem.
Welches denn?
Die Stimmen der Polonia werden alle zum Warschauer Wahlbezirk 19 hinzugezählt. Dort bleibt die Zahl der Mandate aber seit Jahren unverändert, während immer mehr Polinnen und Polen im Ausland leben. Das größere Gewicht, das ihre Stimmen eigentlich haben könnten, wird nicht abgebildet. Ganz konkret gibt es ein Ungleichgewicht: Andernorts in Polen können Kandidat*innen schon mit viel weniger Stimmen ein Parlamentsmandat erlangen als in der Hauptstadt. Das widerspricht dem demokratischen Grundprinzip "One Person one Vote".
Interessant. Obwohl die Rolle der Auslands-Pol*innen bei den anstehenden Wahlen in polnischen Medien viel diskutiert wird, gab es zu diesem Aspekt kaum eine Debatte.
Das lässt sich auch erklären: Wir haben es in Polen mit einer stark polarisierten Debatte zu tun. Da überrascht es nicht, wenn das Augenmerk eher darauf liegt, was man der Regierung vorwerfen kann. Auch aus Perspektive der Bürger*innen im Ausland ist die Frage, ob ihre Stimme gezählt wird, verständlicherweise bewegend. Wenn es aber darum geht, ob Wähler*innen mit ihrer Stimme wirklich etwas verändern können oder alle Stimmen gleich viel "wert" sind, ist das Ungleichgewicht der Mandate aus politikwissenschaftlicher Sicht zentraler als etwa die Auszählfrist.
Gab es schon mal ernsthaftere Diskussionen, das zu ändern?
In letzter Zeit nicht.
Können die Stimmen der Polonia unter diesen Umständen denn einen Einfluss auf den Ausgang der polnischen Parlamentswahlen nehmen?
Aus heutiger Sicht sind sie vermutlich nicht wahlentscheidend, da sie höchstens eine Verschiebung von ein oder zwei Mandaten im Warschauer Wahlkreis beeinflussen können. Aber: Angenommen, einige Oppositionsparteien würden nicht ins Parlament einziehen und hinter der Fünf- beziehungsweise Acht-Prozent Hürde zurück bleiben. Dann stünden wir vor einer ähnlichen Situation wie im Jahr 2015, als gut 16 Prozent der Stimmen nicht im Parlament abgebildet wurden. In so einem Fall bekommt der Stimmenanteil, der auf die großen Parteien entfällt, proportional mehr Gewicht - dann könnten ein oder zwei Mandate durchaus wahlentscheidend sein. In der Politik ist grundsätzlich natürlich vieles möglich. Aktuell deutet nichts auf eine solche Konstellation hin. Ausgeschlossen ist sie aber nicht.
Interview: Martha Otwinowski
Im MEDIENDIENST-Factsheet gibt es weitere Informationen dazu, wie die Polonia bei vorherigen Wahlen abstimmte und was diesmal für sie zur Wahl steht. LINK
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.