Bei der Parlamentswahl in Polen am 15. Oktober können neben rund 30 Millionen Wahlberechtigten im Land auch mehrere Millionen im Ausland lebender Polinnen und Polen abstimmen. Ihre mögliche Rolle bei der von Beobachter*innen als "Schicksalswahl" bezeichneten Abstimmung wird in Polen seit Monaten diskutiert.Quelle
Im MEDIENDIENST-Factsheet gibt es Zahlen zur zweitgrößten Einwanderergruppe in Deutschland, einen Überblick, wie und worüber sie abstimmen können, sowie zur Kontroverse um Wahlvorschriften.
Dieses Factsheet finden Sie auch hier als PDF–Version (Stand: 4.10.).
Menschen mit polnischer Einwanderungsgeschichte in Deutschland
Hierzulande leben rund 2,2 Millionen Menschen mit einem polnischen Migrationshintergrund. Mit anteilig 9,2 Prozent der Bevölkerung mit Migrationshintergrund sind Menschen mit Bezügen zu Polen die zweitgrößte Einwanderer–Community Deutschlands.Quelle
Etwa 1,2 Millionen von ihnen haben laut dem Ausländerzentralregister (AZR) eine polnische Staatsbürgerschaft: Rund 881.000 haben nur die polnische Staatsangehörigkeit (Stand: 2022). Vermutlich sind weitere etwa 360.000 polnische wie auch deutsche Staatsbürger*innen (Stand: 2021).Quelle
Mit mehr als 200.000 Menschen leben die meisten Pol*innen in Nordrhein-Westfalen (siehe Grafik), gefolgt von Bayern, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Hessen und Berlin.
Entwicklung der Einwanderungszahlen
Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Hauptziel für Auswanderer aus dem Nachbarland. Offiziellen polnischen Statistiken zufolge lag Deutschland auch 2022 an der Spitze der Zielländer für Polinnen und Polen, die dauerhaft auswanderten.Quelle
Seit 2011 können Pol*innen nach den EU-Freizügigkeitsregeln uneingeschränkt Arbeit suchen. Einige wandern nicht dauerhaft aus, sondern arbeiten in Deutschland und pendeln nach Polen. Zuletzt betrug der Anteil der Polinnen und Polen auf dem deutschen Arbeitsmarkt rund ein Viertel aller Arbeitnehmer*innen aus 27 EU-Staaten (Stand: 2021).Quelle
Weltweit große Diaspora
Die Zahl der polnisch-stämmigen Bevölkerung im Ausland ("Polonia") wird weltweit auf rund 20 Millionen geschätzt, wobei viele keine polnischen Staatsbürger*innen sind und damit auch kein Wahlrecht haben. Sehr große Communities leben in den USA und Brasilien.
Europa: Mindestens rund 2.755.700 Millionen Menschen mit polnischer Staatsbürgerschaft leben europaweit außerhalb Polens.
- 2022 lebten rund 1,5 Millionen Polinnen und Polen im EU-Ausland.Quelle
- Außerdem leben mindestens rund 895.700 Menschen mit polnischer Staatsbürgerschaft in Großbritannien (Stand: 2021).Quelle
Wie viele Auslands-Pol*innen werden diesen Herbst wählen?
Mehrere Millionen Polinnen und Polen, die zeitweise oder dauerhaft im Ausland leben, sind grundsätzlich wahlberechtigt. Weltweit planen diesmal rund 608.000 Pol*innen, aus dem Ausland zu wählen – nahezu ein Fünftel davon (rund 109.000) in Deutschland.
In Köln wollen rund 47.000 Polinnen und Polen wählen, in Berlin sind es mindestens rund 17.500 – das sind 60 Prozent mehr Anmeldungen im Wahlregister als bei der Parlamentswahl 2019.Quelle
Bis zum 10. Oktober konnten Polinnen und Polen, die aus dem Ausland abstimmen wollen, einen entsprechenden Antrag stellen. Die Meisten dürften dafür das online–System "e–wybory" des polnischen Auswärtigen Amts genutzt haben – Botschaften nehmen jedoch immer noch auf Anträge, auf dem Postweg entgegen, wie eine Sprecherin der polnischen Botschaft in Berlin dem Mediendienst gegenüber bestätigte (Stand: 11.10.23).Quelle
Prognosen gehen für die Parlamentswahl von etwa 400.000 Abstimmungen weltweit aus. Die Wahlbeteiligung in Polen gilt im internationalen Vergleich als eher gering, erzielte jedoch zuletzt Höchstwerte. Auch unter Auslands–Pol*innen steigt die Wahlbeteiligung seit Jahren merklich: Bei den Parlamentswahlen 2019 stimmten insgesamt rund 314.000 polnische Wahlberechtigte aus dem Ausland ab, 2015 waren es noch knapp 175.000. Dieser Zuwachs ist auch auf eine höhere Wahlbeteiligung der deutschen 'Polonia' zurückzuführen: Hier stimmten 2019 mehr als 46.000 Personen ab, während es 2015 nur knapp 20.000 waren.
Bei der Präsidentschaftswahl 2020 hatten sich hierzulande sogar rund 84.000 Pol*innen ins Wahlregister eintragen lassen, am meisten waren es in Großbritannien (rund 183.000).
Wo können Polinnen und Polen in Deutschland abstimmen?
Gewählt werden kann grundsätzlich nur in offiziellen Wahllokalen am Wahltag. Das polnische Außenministerium gab die Liste ausländischer Wahllokale am 11. September bekannt.
Für Deutschland sind diesmal 42 Wahllokale vorgesehen - das sind fast doppelt so viele wie bei den Parlamentswahlen 2019, damals waren es 23. Teilweise wird es mehr als eine Wahlkommission an einem Standort geben, so etwa in Köln, im Konsulat in München, Hamburg und Berlin.Quelle
Weltweit können Pol*innen diesmal in 402 Wahllokalen außerhalb des Landes abstimmen. Zur Parlamentswahl 2019 gab es insgesamt 320. Die meisten ausländischen Wahllokale sind diesmal in Großbritannien geplant (75), gefolgt von den USA (52).
Umstrittene Wahlrechtsvorschriften
Wie viele Wahllokale es zur diesjährigen Parlamentswahl geben würde, war Gegenstand monatelanger Debatten. Aber auch andere Wahlvorschriften wurden kritisch diskutiert:
- Eine Briefwahl ist diesmal wieder nur in Ausnahmefällen möglich.
- Ausländische Wahllokale müssen alle Stimmzettel für die Parlamentswahl innerhalb von 24 Stunden ausgezählt und vollständig an Warschau übermittelt haben – andernfalls verfallen sie. Zwei Aspekte sind daran besonders kontrovers: Zum einen beraumte die Regierungspartei zeitgleich zur Parlamentswahl ein Referendum an. Zum anderen muss seit einer Reform der Wahlvorschriften aus dem Frühjahr jedes Mitglied der Wahlkommission alle Stimmzettel in Augenschein nehmen – zuvor reichten dafür Kleingruppen aus.
Zivilgesellschaftliche Organisationen und Oppositionsparteien werfen der Regierung vor, mit der "Präsenzpflicht" Polinnen und Polen im Ausland mindestens von der Wahl abzuschrecken. Insbesondere außerhalb Europas wie in den USA oder in Kanada wohnen Wahlberechtigte oftmals weit entfernt vom nächsten Wahllokal.
Das Referendum belaste die Wahlkommissionen zusätzlich. Schlimmstenfalls könne es wegen der 24-Stundenfrist dazu kommen, dass Stimmen einer oder mehrerer gesamter Wahlkommissionen für ungültig erklärt würden. Die zusätzlich geplanten rund 80 Wahllokale weltweit schaffen zwar Abhilfe, reichen jedoch bei Weitem nicht aus, so Małgorzata Hallewell von der ehrenamtlichen und parteiunabhängigen Organisation Polonia Głosuje (dt.: "Auslands-Pol*innen Wählen") gegenüber dem Mediendienst.
Mehr zur Kontroverse um die Wahlvorschriften im MEDIENDIENST-INTERVIEW. Bastian Sendhardt vom Deutschen Poleninstitut argumentiert, Frist und Briefwahl seien nicht die Hauptursache dafür, dass die Stimmen der Polonia im Verhältnis zu wenig Gewicht hätten. LINK
Was steht zur Wahl?
Gewählt werden Vertreter*innen beider Parlamentskammern, des Sejm (460 Mandate) sowie des Senats (100). Zwei größere Lager stehen sich gegenüber:
- Die Vereinigte Rechte, unter dem Vorsitz von "Recht und Gerechtigkeit" ("Prawo i Sprawiedliwość", PiS). Die national-konservative Partei regiert Polen seit acht Jahren. In der Zeit brachte sie insbesondere Justiz und Medien verstärkt unter ihren politischen Einfluss. Für ihre ultrakonservative Politik bekam sie im Land wie international viel Kritik. Unter anderem wegen sozialpolitischer Reformen war sie innenpolitisch lange unangefochten. Während im Sommer ihre Zustimmungswerte sanken und das Oppositionslager nahezu gleichauf lag, hat PiS aktuellen Umfragen zufolge einen Vorsprung.
- Bürger-Koalition ("Koalicja Obywatelska", KO), ein Zusammenschluss liberal-progressiver Parteien. Den Vorsitz hat die liberal-konservative "Bürgerplattform" ("Platforma Obywatelska", PO), die mehrheitlich von 2007-2015 regierte. Ihr Vorsitzender ist seit 2021 wieder Donald Tusk, damals Premierminister. Sein europäisches Profil ist Gegenstand zahlreicher Angriffe von Seiten der regierenden Partei PiS, die ihm vorwirft, deutsche statt polnische Interessen zu vertreten. Außerdem an dem Wahlbündnis beteiligt sind "die Moderne" ("Nowoczesna"), die Grünen ("Zieloni"), sowie die Polnische Initiative ("Polska Inicjatywa", iPL). Die KO stellt gemeinsame Kandidat*innen-Listen jeweils für den Sejm und Senat.
Außer der beiden größeren Bündnisse stehen weitere Parteien zur Wahl, darunter die Konföderation ("Konfederacja"). Sie liegt in Umfragen mit rund 10 Prozent Zustimmung an dritter Stelle (Stand: 26. September 2023). Das ultra-rechte, -libertäre und anti-europäische Bündnis formierte sich Ende 2018 rechts der PiS-Partei.
Referendum: Stimmungsmache in der Wahlkabine
Für den Wahltag hat die Regierung ein Referendum anberaumt, das gemeinhin nicht als inhaltliche Abstimmung, sondern als ein Versuch gewertet wird, Wähler*innen bei der Parlamentswahl im Sinne der PiS zu beeinflussen.
Der ehemalige Verfassungsrichter Wojciech Hermelinski rief dazu auf, den Abstimmungszettel gar nicht erst entgegen zu nehmen, damit das Referendum wegen zu geringer Beteiligung ungültig werde. In zwei von vier Fragen geht es um Migration: Etwa darum, ob "die Mauer an der belarusisch-polnischen Grenze wieder demontiert" werden solle; außerdem, ob man "die Aufnahme tausender illegaler Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrika im Rahmen des von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus" befürworte.
Wie stimmt die 'Polonia' tendenziell ab?
Sowohl bei den Präsidentschaftswahlen 2020 als auch bei den Parlamentswahlen 2019 stimmten Auslands-Pol*innen europaweit mehrheitlich für Oppositionsparteien.
- 2020: In beiden Wahlgängen stimmten rund drei Viertel der "Polonia" für den Kandidaten der Bürgerkoalition, so auch in Deutschland (77,2 Prozent im zweiten Wahldurchgang).
- 2019: Bei den letzten Parlamentswahlen stimmten rund 37 Prozent der Pol*innen im Ausland für das liberale Bündnis der KO, etwa 29 Prozent für die letztlich regierende PiS-Partei.
Polnische Zivilgesellschaft mobilisiert bis an die Wahlurne
Innerhalb der Polonia werde aktiv diskutiert, ob es vertretbar sei, an den Wahlen teilzunehmen, wenn man dauerhaft im Ausland lebe. Das sagten Vertreter*innen von Polonia Głosuje in Großbritannien, sowie Dziewuchy Berlin (dt.: "Berliner Mädels") und dem Berliner Club der Polnischen Versager dem MEDIENDIENST. Aber: Viele Polinnen und Polen fühlten sich weiterhin mit dem Land verbunden. Auch seien sie nicht aus "reiner Abenteuerlust" ausgewandert, sondern hätten sich aufgrund wirtschaftlicher und politischer Umstände dazu gezwungen gefühlt, so der Historiker Andrzej Kompa auf einer Diskussionsveranstaltung der Initiative Polonia Głosuje. Die polnische Politik betreffe das Leben der ausländischen Staatsbürger*innen unmittelbar – etwa über Projektförderungen für Kulturinitiativen, oder der Außenpolitik gegenüber Deutschland und innerhalb der EU, argumentiert Agnieszka Glapa von der Initiative Dziewuchy Berlin gegenüber dem MEDIENDIENST.
Nicht alle wüssten, dass sie im Ausland wahlberechtigt seien. Daher sei die erste Aufgabe für zivilgesellschaftlichen Initiativen, die Menschen aufzuklären, um sie anschließend zur Wahl zu mobilisieren, so Małgorzata Hallewell von Polonia Głosuje gegenüber dem MEDIENDIENST. Die Initiative in Großbritannien wie auch Vereinigungen hierzulande gehen noch einen Schritt weiter. Einige planen, Fahrgemeinschaften zu organisieren – entweder zum nächsten ausländischen Wahllokal oder sogar bis nach Polen. Denn mit Vorankündigung können Polinnen und Polen auch in jedem anderen Wahlkreis im Land selbst wählen gehen.
Von Martha Otwinowski
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