Stolipinovo, im Nordosten der zweitgrößten Stadt Bulgariens Plovdiv, ist eine Stadt in der Stadt. Hier leben in heruntergekommenen Plattenbauten aus der sozialistischen Ära schätzungsweise 50.000 Menschen auf 1,5 Quadratkilometern. Die meisten von ihnen gehören zur Roma-Minderheit. Stolipinovo gilt als größte Roma-Siedlung im Südosten Europas. Ein Dokumentarfilm von "Studio West" zeigt eine extrem dürftige Infrastruktur: Viele Gebäude sind baufällig, die Straßen nicht asphaltiert, das Leitungswasser verseucht. Einige Jahre lang waren die Bewohner sogar von der Stromversorgung abgekoppelt.
Stolipinovo ist mit seinem zweifelhaften Ruf über die Landesgrenzen hinaus bekannt. „Trotzdem wollen die meisten Menschen hier bleiben", sagt Sebastian Kurtenbach, Soziologe und Mitarbeiter des Zentrums für Interdisziplinäre Regionalforschung an der Universität Bochum. "Weil hier ihr Zuhause ist." Doch die Zahl der Auswanderer aus dem „Roma-Ghetto“ nahm in den vergangenen Jahren zu. Und neben London und Paris zählt inzwischen auch Dortmund zu den wichtigsten Zielorten.
Kurtenbach hörte davon zum ersten Mal vor einem Jahr in der Dortmunder Nordstadt, wo er an einer Studie zur Armutszuwanderung arbeitete. Ende 2013 reiste er dann nach Bulgarien, um sich direkt vor Ort ein Bild zu machen. "Als ich den Menschen in Stolipinovo über die Debatte in Deutschland zu Armutsmigration erzählte, waren sie sehr überrascht", sagt der Stadtsoziologe. Insbesondere wunderte sie die Vorstellung, sie würden nach Deutschland ziehen, um Sozialleistungen zu beantragen. "Fast niemand in Stolipinovo hat jemals etwas von Sozialleistungen gehört", berichtet Kurtenbach.
"Uns bleibt oft nur die Chance zu gehen"
In einem offenen Brief an die Bundesregierung wollen die Roma aus Stolipinovo ihren Standpunkt klarmachen: "In Deutschland ist die Rede von Sozialtourismus und organisierter Kriminalität, der Blick auf die Realität bleibt auf der Strecke", schreibt Anton Karagiozov, Vorsitzender einer Nichtregierungsorganisation vor Ort. Im Namen der anderen hat er den Brief unterzeichnet, den Sebastian Kurtenbach nach seinem letzten Aufenthalt mitbringen und übersetzen lassen sollte.
"Niemand von uns verlässt gerne seine Familie, sein Haus, seine Heimat, um in einem fremden Land zu arbeiten", steht da. "Dennoch: im Gegensatz zu unserer Heimat finden wir dort Arbeit. Uns bleibt oftmals nur die Chance, wenigstens für ein paar Monate im Jahr im europäischen Ausland zu arbeiten, um unsere Familien zu ernähren."
Schon vor Jahren, sagt Kurtenbach, zogen die ersten Stolipinovo-Einwohner nach Nordrhein-Westfalen. Inzwischen hat sich – vor allem in der Dortmunder Nordstadt – ein Aufnahmesystem entwickelt, das Neuzuwanderern hilft, durch informelle Kanäle eine Gelegenheitsarbeit zu finden. "Viele entscheiden sich für Dortmund, weil sie wissen, dass es hier eine große türkischsprachige Community gibt", sagt Kurtenbach. "In Stolipinovo sprechen die meisten kein Romanes, sondern Türkisch. Deshalb ist es für sie in den bestimmten Stadtteilen einfacher, Kontakte zu knüpfen."
Die Roma aus Stolipinovo verstehen offenbar auch die Bedenken der Deutschen: "Wir sehen ebenso wie Sie, dass die Probleme vor Ort, beispielsweise in Stolipinovo, gelöst werden müssen. Doch sind bislang nicht mehr als Lippenbekenntnisse übriggeblieben. Niemand fühlt sich verantwortlich und auf uns allein gestellt bleibt uns nur die Möglichkeit, im Ausland zu arbeiten." Damit sich die Situation verbessere, brauche es Unterstützung der Zivilgesellschaft in Stadtteilen wie Stolipinovo – "was bislang nicht geschehen ist".
Von Fabio Ghelli
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