Dem Vorsitzenden des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV) Frank Überall zufolge würde durch die Änderung klarer, was mit Richtlinie gemeint sei. Der Bezug auf das "öffentliche Interesse" helfe Journalisten zu entscheiden, wann sie die Herkunft von Straftätern oder Verdächtigen nennen können. Die Organisation "Neue deutsche Medienmacher" hingegen kritisiert in einer Pressemitteilung, dass die Neuformulierung genau das noch schwerer mache. Wer entscheidet darüber, was ein "begründetes öffentliches Interesse" sei? Im Interview mit dem MEDIENDIENST erläutert die Medienwissenschaftlerin Christine Horz, wie sie die Neuerung bewertet.
MEDIENDIENST: Hilft die Neuformulierung im Pressekodex Journalisten dabei, zu entscheiden, ob sie die Herkunft oder Religion eines Verdächtigen nennen oder nicht?
Christine Horz: Nein, ich glaube, sie hilft ihnen nicht wirklich weiter. Ob die Herkunft und Religion eines Straftäters genannt werden, hängt jetzt vom „begründeten öffentlichen Interesse“ ab. Aber dieses „öffentliche Interesse“ ist doch grundsätzlich das, wofür sich jeder Journalist morgens an den Schreibtisch setzt. Eine Präzisierung der Diskriminierungsrichtlinie ist das auf keinen Fall, sondern eine Aufweichung. Außerdem kommt man durch diese Neuformulierung denen entgegen, die sagen, "Ihr habt nicht alles berichtet" oder „Ihr sollt die Täterschaft nennen". Aus meiner Sicht ist das keine gute Entwicklung.
Was sollten Medien Ihrer Meinung nach beachten, wenn sie über Migration und Integration berichten?
Die Berichterstattung über Migration und Integration sollte sich vor allem darauf ausrichten, was von gesellschaftlicher Relevanz ist. Das ist etwas anderes als nur auf das "öffentliche Interesse" zu schauen. Gesellschaftlich relevant ist eine ausgewogene Berichterstattung über Migration, weil sich das Publikum nur dann eine freie Meinung bilden kann. Schließlich kommt den Journalisten auch eine gesellschaftliche Verantwortung zu. Es gibt ja etliche Ressorts, in denen man auch über die Hintergründe berichten kann, um das Thema Einwanderung differenzierter darzustellen, zum Beispiel auch die lange Geschichte der Migration, die Teil der deutschen Geschichte ist.
Wie könnte eine differenzierte Berichterstattung aussehen?
Prof. Dr. CHRISTINE HORZ ist Medienwissenschaftlerin und hat die Professur für Transkulturelle Medienkommunikation an der Technischen Hochschule Köln inne. Ihre Schwerpunkte sind unter anderem Teilhabe in den Medien, transkulturelle Kommunikation sowie Flucht und Flüchtlinge in den Medien. Horz hat die Studie der Neuen deutschen Medienmacher*innen wissenschaftlich begleitet.
Bei der Berichterstattung über die Kölner Silversternacht wurde schnell ein Zusammenhang zwischen der Herkunft der Straftäter und den Taten gezogen. Es wäre gut, wenn Medien verstärkt auch Hintergründe präsentiert hätten, die diese vordergründigen Meinungen relativieren können. Man müsste tiefergehend danach fragen, ob und wenn ja, welche Zusammenhänge es zwischen Migration und Kriminalität gibt und was die Gründe dafür sind. Denn oftmals relativieren sich entsprechende Statistiken bei genauerer Betrachtung. Ebenfalls gesellschaftlich relevant ist es, Dinge nicht verzerrend darzustellen.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Eine nicht-wissenschaftliche Untersuchung eines SPD-Bundestagsabgeordneten zu Talkshows hat gezeigt, dass sich in den vergangenen anderthalb Jahren jede vierte Sendung mit Flüchtlingen befasst hat. Gleichzeitig gab es nur eine Sendung zum Thema „Rassismus, NSU und rechte Gewalt“. Das sind Themen, über die viel zu wenig berichtet wird, obwohl sie ebenfalls gesellschaftlich relevant sind.
Wie wirkt sich das aus?
Wenn ich viel über Flüchtlinge und kaum über Rechtsterrorismus berichte, dann ist der öffentliche Fokus auf dieses Thema gerichtet und es erscheint dementsprechend als "öffentliches Interesse". Die Medien kommen ihrer Verantwortung in diesem Bereich nicht ausreichend nach. Und der Journalismus hat hier ein Stück weit versagt.
Und was würden Sie empfehlen, um dem entgegen zu wirken?
Journalisten, Redakteure und Entscheider mit Migrationsgeschichte sollten verstärkt eingestellt werden, damit endlich mehr Selbstbilder in den journalistischen Migrationsdiskurs kommen. Allerdings gibt es nur in wenigen Rundfunksendern Ansätze zu einer Diversitätsstrategie, in Print-Redaktionen sucht man danach vergebens. Ein weiteres Thema für Medien wären "Fake-News", die extrem Rechte und Rechtspopulisten über Migration und Integration in den Diskurs bringen. In den sozialen Netzwerken häuft sich das. Es gibt zwar Freiwilligen-Organisationen wie „Hoax-Map“ oder „Mimikama“. Doch vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien müssten viel aktiver werden, darüber aufzuklären. Wenn all die genannten Möglichkeiten strategisch angegangen würden, bestünden mehr Möglichkeiten für eine differenziertere Sicht auf Migration und Integration. Und das ist es, was wir dringend brauchen.
Interview: Jenny Lindner
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