MEDIENDIENST Integration: Herr Prof. Wrase, in mehreren Städten sind propalästinensische Demonstrationen verboten worden. In Berlin gibt es außerdem ein Rundschreiben des Bildungssenats, dass Schulen ab sofort das Tragen sogenannter Palästinensertücher untersagen können. Wie sind solche Verbote rechtlich einzuordnen?
Michael Wrase: Solche Verbote sind ein starker Eingriff in die Grundrechte. Wir sprechen hier über komplexe Abwägungen, wo man unter anderem die hohen Rechtsgüter der Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit berücksichtigen muss. Wie immer im Juristischen kommt es auf den Einzelfall an. Abstrakt lässt sich erstmal nur sagen: Pauschale Verbote sind meistens problematisch.
Fangen wir mit dem Versammlungsrecht an: Wann können in Deutschland Demos verboten werden?
Versammlungen sind grundsätzlich erst einmal erlaubt. Sie können verboten werden, wenn die Gefahr besteht, dass es zu Straftaten kommt, die die öffentliche Sicherheit gefährden. Hier wären aktuell etwa die Volksverhetzung oder die Billigung von Straftaten – nämlich des Hamas Terrors – zu nennen. Das ist recht eindeutig der Fall, wenn auf Demos gegen Juden gehetzt wird.
Komplizierter ist es, wenn zum Beispiel Bombenangriffe auf den Gazastreifen kritisiert werden. Darüber wird ja auch in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Hier muss man wohl zugunsten der Meinungsfreiheit entscheiden.
Das heißt, wenn es bei Demonstrationen zu Straftaten wie etwa Volksverhetzung kommt, kann die Demo verboten oder aufgelöst werden?
Nicht direkt. Die Voraussetzung ist, dass die Straftaten das Gesamtbild der Demonstration prägen. Wenn nur Einzelne die Straftaten begehen, ist es Aufgabe des Versammlungsleiters und der Polizei, diese Einzelnen von der Versammlung auszuschließen, statt direkt die gesamte Versammlung aufzulösen.
Die Veranstaltung aufzulösen ist aber etwas anderes, als sie von vorneherein zu verbieten.
Genau. Derzeit werden viele Demos schon im Vorfeld untersagt. Das bedeutet, die Behörden machen im Vorhinein eine Prognose, wie die Versammlung wohl ablaufen wird. Im Moment wird oft argumentiert, dass die aktuelle Konfliktlage so aufgeladen sei, dass bei jeder dieser Versammlungen erst einmal davon ausgegangen werden müsse, dass es dort in einem prägenden Umfang zu strafbaren Handlungen komme. Ob das rechtmäßig ist, würde ich mit einem großen Fragezeichen versehen.
Prof. Dr. Michael Wrase ist Jurist. Er arbeitet am Wissenschaftszentrum Berlin und an der Universität Hildesheim mit Schwerpunkten unter anderem auf Schulrecht und Verfassungsrecht.
Berlin hat auch sogenannte „Ersatzveranstaltungen“ verboten. Was bedeutet das?
Es bedeutet, dass nicht nur eine konkret angemeldete Versammlung verboten wird, sondern auch alle Versammlungen, die ersatzweise stattfinden würden, aber im Grunde denselben Charakter haben. Rechtlich gesehen ist diese weite Formulierung problematisch, weil nicht klar ist, was alles als „Ersatzversammlung“ gilt. Eigentlich müsste auch hier wieder jeder Einzelfall geprüft werden.
In Frankfurt gilt das Verbot für Demonstrationen, die sich generell gegen Israel richten. Das ist inhaltlich gut nachvollziehbar. Allerdings: Im Frankfurter Erlass ist dann die Rede von „sogenannten pro-palästinensischen Demonstrationen“. In dieser Weite und Unbestimmtheit ist ein Verbot aus meiner Sicht sehr problematisch
Wenn solche Prognosen im Vorhinein gemacht werden: Was spricht für ein Verbot der Demos?
Die Städte müssen jeden Einzelfall prüfen und schauen, ob Straftaten bei einer Demo zu erwarten sind. Für ein Verbot kann sprechen, dass die Polizei mit einzelnen Veranstaltern schlechte Erfahrungen gemacht hat. Zum Beispiel wenn auf einer vorangegangenen Demo verbotene Symbole gezeigt wurden. Eine Rolle kann auch spielen, ob eine Veranstaltung in einschlägigen Kanälen beworben wird, so dass antisemitische Äußerungen zu erwarten sind.
Und was spricht gegen ein Verbot?
Zum einen natürlich die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit. Letztere wurde vom Bundesverfassungsgericht immer wieder sehr stark gemacht, zum Beispiel auch bei Demos von Rechtsextremisten. Im Sinne von „in dubio pro Versammlungsfreiheit“ (im Zweifel für die Versammlungsfreiheit).
Zum anderen sehen wir ja, dass Verbote nicht dazu führen, dass die Demos nicht stattfinden. Es gab zahlreiche sogenannte Spontan-Demonstrationen in Berlin, bei denen die Polizei eingreifen musste. Da wäre es vielleicht auch politisch klüger, einige Veranstaltungen zuzulassen, wenn die Veranstalter mit der Polizei kooperieren, Ordner bereitstellen und Straftaten unterbinden. Sie müssen dann selbst dafür sorgen, dass Menschen aus der Demo ausgeschlossen werden, die antisemitische Parolen skandieren.
Wenn die Behörden Verbote erlassen, bedeutet das ja nicht automatisch, dass die Verbote rechtmäßig sind – das klären letztlich die Gerichte. Gibt es hier schon Urteile?
Das ist ein sehr interessanter Punkt: Veranstalter von Pro-Palästina-Kundgebungen sind offenbar bisher nur selten vor Gericht gegen die Verbote vorgegangen. Ich sehe hier einen großen Unterschied etwa zu Rechtsextremen, die bei solchen Verboten immer sehr schnell Eilanträge bei den Gerichten einreichen. Möglicherweise ist diese sogenannte Rechtsmobilisierung unter den Personen, die aktuell demonstrieren möchten, nicht so hoch – warum das so ist, ist eine spannende Frage…
Meines Erachtens hätten Gerichtsanträge gegen pauschale Verbote gute Aussicht auf Erfolg. In einer aktuellen Entscheidung letzte Woche hat zum Beispiel der bayerische Verwaltungsgerichtshof ein Demo-Verbot der Stadt München aufgehoben.
Kommen wir zur Lage an Schulen: Die Berliner Bildungssenatorin hat ein Rundschreiben an Berliner Schulleiter verschickt. Ab sofort dürfen sie das Tragen von sogenannten Palästinensertüchern verbieten, wenn es den Schulfrieden gefährdet.
Viele Lehrkräfte sind im Moment verständlicherweise verunsichert. Das Rundschreiben war da aus meiner Sicht wenig hilfreich. Rechtlich ist das nämlich nicht so einfach: Bei Symbolen und Parolen muss sehr konkret im Einzelfall geprüft werden, ob sie den Schulfrieden gefährden. Man kann nicht einfach sagen, dass im Moment das sogenannte Palästinensertuch per se den Schulfrieden gefährdet. Am Ende des Schreibens steht übrigens auch, die Verbote lägen letztlich im Ermessen der Schulen. Das ist eine Grauzone, die die Bildungsverwaltung da aufgemacht hat.
Wie sollten Lehrer*innen mit der aktuellen Situation umgehen?
Ich empfehle, dass Lehrkräfte sich am Beutelsbacher Konsens orientieren. Das sind Empfehlungen von 1976 dazu, wie man mit politisch heiklen Äußerungen an Schulen umgeht. Kurz gesagt: Kontroverse Themen müssen auch in der Schule kontrovers diskutiert werden können. Die Meinungsfreiheit gilt auch für Schüler. Natürlich nur insofern Äußerungen nicht diskriminierend, sonst strafbar oder sogar gewaltverherrlichend sind. Aber bei spontanen, vielleicht auch emotionalen Meinungsäußerungen der Schülerinnen und Schüler müssen Lehrkräfte verschiedene Deutungsmöglichkeiten einer Äußerung einbeziehen. Oft ist ein pädagogisches Gespräch mit der Aufforderung, die eigene Position zu überdenken und die Beeinflussung anderer zu unterlassen, der bessere Weg. Darauf kommt am Ende übrigens auch das Rundschreiben der Bildungssenatorin.
Interview: Donata Hasselmann und Carsten Wolf
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.