Ende letzten Jahres haben Demonstrationen in Berlin, auf denen Israel-Fahnen verbrannt wurden, für Debatten gesorgt. Die Sorge vor einem erstarkenden Antisemitismus durch Zuwanderung wurde vielfach geäußert. Aber wie groß ist diese Gefahr?
Die Ethnologin Sina Arnold hat für eine qualitative Untersuchung 25 Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan befragt. Tatsächlich hätten viele Befragte Vorurteile gegen Juden erkennen lassen, so Arnold, die am "Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung" (BIM) forscht und dort die Befragung zusammen mit Jana König durchgeführt hat. Allerdings hätten sich die Flüchtlinge durchaus widersprüchlich geäußert. Ein geschlossenes antisemitisches Weltbild habe sie in der Befragung kaum gefunden, so Arnold weiter. Einige der Befragten äußerten sich sogar entschieden pro-israelisch.
Könnte Antisemitismus durch Zuwanderung erstarken? Um diese Frage zu beantworten, bräuchte es weitere Untersuchungen, so Arnold. Einen Anhaltspunkt würden aber die aktuellen Kriminalitätsstatistiken bieten. In den allermeisten Fällen geht das Bundesinnenministerium von rechts motivierten Tätern aus.
Dass Antisemitismus kein neues Phänomen sei, darin waren sich die Experten auf der Medien-Tour einig. "Der 'importierte' Antisemitismus spielt in der öffentlichen Debatte zurzeit eine große Rolle", sagte Andreas Nachama, Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, "in den Statistiken taucht er bislang nur selten auf." Nichtsdestotrotz seien Erfahrungen mit antisemitischer Diskriminierung für die Betroffenen natürlich existenziell.
Medien-Tour in Berlin
Antisemitische Einstellungen gebe es in allen Teilen der Gesellschaft, auch in der Mitte, und nicht nur bei Rechtsextremisten oder bei Geflüchteten, betonte Marina Chernivsky, Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Dass Antisemitismus aktuell besonders mit Flüchtlingen verbunden werde, sei eine "Strategie der Entlastung" für die Mehrheitsgesellschaft. Antisemitische Einstellungen seien aber auch in Gegenden verbreitet, wo Zuwanderung kaum eine Rolle spiele. Sie verwies dabei auf Erfahrungen während ihrer Arbeit an Schulen in Sachsen oder Thüringen.
Im Alltag begegneten jüdische Menschen unterschiedlichen Formen von Antisemitismus, so Chernivsky. Sie berichtete von einem Fall aus einer Schule, die das Kompetenzzentrum berät. Eine jüdische Lehrerin sei im Lehrerzimmer von einem Kollegen gefragt worden:"Na? Was hat Israel denn da wieder angestellt?" Das sei ein typischer Fall, in dem den Betroffenen ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft abgesprochen werde. Stattdessen würden sie für das Handeln des Staates Israel verantwortlich gemacht. Dieses sogenannte "Fremdmachen" erlebe sie bei Betroffenen besonders häufig.
Auch der Antisemitismus unter Zuwanderern, zum Beispiel aus dem Nahen Osten, müsse angegangen werden. Aus der pädagogischen Arbeit wisse man, dass sich bei Migranten eine besondere Chance eröffne: Speziell in persönlichen Umbruchsphasen, wie zum Beispiel der Migration, wachse die Bereitschaft, an solchen Ansichten zu rütteln. "Diese Chance sollten wir nutzen", betonte Chernivsky.
Ein Projekt, das dies versucht, ist "Discover Diversity" von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). Dort können Geflüchtete sich weiterbilden, um selbst Workshops an Schulen zu leiten. In den Workshops sprechen sie mit anderen Geflüchteten und Zuwanderern über Demokratie, gesellschaftliche Vielfalt und Antisemitismus.
Teilnehmer des Projektes kamen auf der Medien-Tour ebenfalls zu Wort. Die geflüchtete Syrerin Sandy erklärte ihre Motivation, an dem Projekt teilzunehmen, so: "Ich wollte etwas über die deutsche Geschichte lernen, und zwar nicht nur aus Büchern". Und Samer, der vor zwei Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen ist, ergänzte: "Ich wollte wissen, was die sensiblen Punkte in der deutschen Geschichte sind. Und wie ich sie meinen syrischen Freunden erklären kann."
Flüchtlinge sollten in der pädagogischen Arbeit nicht als "Problemträger" gesehen werden, sagte Aycan Demirel von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Es gehe darum, ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Zugänge zunächst ernst zu nehmen. Um auf antisemitische Vorurteile zu reagieren, empfiehlt Demirel: "Ruhig bleiben, ernst nehmen, nachfragen." Häufig zeigten sich dann teils widersprüchliche Einstellungen bei den Jugendlichen. Manchmal gebe es zum Beispiel eine harsche Israel-Kritik bei gleichzeitiger Sympathie zu Juden im persönlichen Umfeld.
In den Workshops von "Discover Diversity" knüpfe man an positive Beispiele des Zusammenlebens von Juden und Muslimen an. Ein Beispiel aus den Schulworkshops sei die Geschichte eines arabischen Arztes, der während der NS-Zeit in Berlin eine Jüdin gerettet hatte. Er bewahrte sie vor der Deportation durch die Nazis, indem er sie als seine arabische Sprechstundenhilfe ausgab. Solche Geschichten interessierten die Jugendlichen, so Demirel.
Von Carsten Janke
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