Die "Ampel-Koalition" hat sich in Sachen Migration, Asyl und Integration sehr viel vorgenommen. Laut Koalitionsvertrag hat sie weitreichende Pläne. Einige Beispiele:
- Einbürgerungen sollen erleichtert werden.
- Langzeit-Geduldete sollen einen Aufenthaltsstatus erhalten können.
- Geflüchtete mit subsidiärem Schutz sollen ihre Familien nachziehen lassen können.
- Asylverfahren sollen "fair, zügig und rechtssicher" werden.
- In der EU sollen Asylsuchende fair verteilt werden und die Verantwortung zwischen den EU-Staaten geteilt werden.
Inwiefern handelt es sich dabei um neue Vorschläge? Und wie werden sich diese Maßnahmen konkret auf das Leben von Einwanderer*innen und Geflüchtete auswirken? Der MEDIENDIENST hat vier führende Migrationsforscher*innen dazu befragt.
Prof. Dr. Jochen Oltmer, Migrationshistoriker (Universität Osnabrück) zum Diskurs über Migration
"Im Koalitionsvertrag sind echte Innovationen nicht zu erkennen. Dennoch zeigt sich, dass viele wichtige Aspekte aus den gesellschaftlichen Debatten um Migration der letzten Jahre im Vertrag aufgegriffen wurden. Auffällig ist, dass sich die Art und Weise verändert hat, wie über Migration und Integration gesprochen wird. Im Vergleich zu den vergangenen Jahren wird Migration nicht mehr vorrangig als Sicherheitsgefahr dargestellt, auf die man mit Abwehrmaßnahmen reagieren müsse. Eingewanderte werden weniger als spezifische Problemgruppe, sondern vielmehr als Teil der Gesellschaft begriffen. Als weiterer Trend lässt sich feststellen, dass vermehrt von "Rückkehrförderung" statt "Abschiebung" die Rede ist. Zwar wird nicht Abstand von Abschiebungen genommen, aber es wird zumindest ein Bemühen deutlich, den Fokus von der Abschiebung hin zur freiwilligen Rückkehr zu verlegen. Was gänzlich fehlt, sind Konzepte, wie man Fachkräftezuwanderung ohne einen Ausverkauf ärmerer Gesellschaften erreichen kann und wie man dem globalen Pflegekräftemangel begegnen kann."
Prof. Dr. Dietrich Thränhardt, Migrationsforscher (Univertsität Münster) zu Asylverfahren
"Beim Thema Asylverfahren lassen sich deutliche Verbesserungen feststellen. Insbesondere durch die unabhängige Verfahrensberatung könnten Verfahren schneller und fairer werden. Im Jahr 2020 dauerten Asylverfahren im Durchschnitt 8,3 Monate. Wenn Asylbewerber gegen einen Beschluss des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge klagen, dauert das Gerichtsverfahren im Durchschnitt weitere 22 Monate. Dieser lange Prozess ist wirtschaftlich und human unsinnig, führt zu weiteren Traumatisierungen und wirkt sich ungünstig auf die Integrationsperspektive aus. Die Einführung der unabhängigen Asylverfahrensberatung führt dazu, dass Asylbewerber von Beginn an Zugang zu professioneller Rechtsberatung haben. Es gibt dann den Entscheider vom BAMF und es gibt den Berater, der die Interessen des Flüchtlings vertritt. Diese Neuerung kann die Qualität der Asylverfahren entscheidend verbessern und die Gerichte entlasten, die dann weniger fehlerhafte Entscheidungen aufheben müssen."
Prof. Dr. Hacı-Halil Uslucan, Psychologe und Integrationsforscher (Universität Duisburg-Essen) zu Einbürgerungen
"Die neue Bundesregierung will das Staatsangehörigkeitsrecht modernisieren. Zum einen will sie Einbürgerung erleichtern und Mehrstaatigkeit ermöglichen. Aus der Perspektive der Integrationsforschung ist diese Entscheidung wichtig und richtig; denn mit der Einbürgerung gehen in der Regel deutlich stärkere Partizipation und Beteiligung einher. Menschen fühlen sich in der Regel mit ihrer eigenen Gemeinschaft verbunden und ihr verpflichtet, wenn sie diese mitgestalten können. In Sachen doppelte oder mehrfache Staatsangehörigkeit geht der Koalitionsvertrag kaum über die aktuelle Gesetzeslage hinaus. Für Bürger bestimmter Länder wird ja Mehrstaatigkeit bereits akzeptiert. Das Thema doppelte Staatsangehörigkeit betrifft insbesondere türkeistämmige Personen – einer gesellschaftlich bedeutsamen Einwanderungsgruppe. Viele Türkeistämmige könnten sich schon jetzt einbürgern lassen. Aus einer emotionalen Bindung zum Herkunftsland Türkei wollen viele von ihnen aber den türkischen Pass nicht aufgeben. Da dies aber eine zentrale Voraussetzung der Einbürgerung ist, verhindert das de facto eine volle gleichberechtigte Teilhabe. Es wäre wünschenswert, dass die Koalitionsparteien ihre Vorhaben in diesem Punkt konkretisieren beziehungsweise die Hindernisse bestimmter Gruppen wie der Türkeistämmigen benennen."
Prof. Dr. Sabine Hess, Politische Anthropologin (Universität Göttingen) zur EU-Grenzpolitik
Im Koalitionsvertrag sind positive Signale zu erkennen. Zunächst lässt sich eine Rückkehr zu einem humanitären, von Menschenrechten geprägten Diskurs erkennen – nachdem er jahrelang von einer scharfen Abschreckungspolitik dominiert war. Das ist notwendig angesichts der extremen Gewalt an den EU-Außengrenzen, der zahlreichen offensichtlichen Rechtsverletzungen und der Aussetzung internationaler Schutznormen. Zumindest in der Theorie machen die Parteien damit deutlich, dass sie wieder zu den rechtlichen Werten und Standards der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen. Das ist unter anderem ein Verdienst der hartnäckigen Arbeit der Zivilgesellschaft, die immer wieder auf die zahlreichen Rechtsverletzungen hingewiesen hat. Dennoch: Auf dem Gebiet der europäischen und internationalen Flüchtlingspolitik bleibt der Koalitionsvertrag sehr unkonkret und vage. Die neue Regierung strebt offenbar eine Koalition aufnahmebereiter EU-Mitgliedstaaten an, die sich aktiv darum bemühen sollen, Geflüchtete aufzunehmen und EU-Recht einzuhalten. Dabei erwähnt sie mit keinem Wort die zahlreichen europäischen Städte, die sich bereit erklärt haben, Geflüchtete direkt aufzunehmen. Stattdessen hält die Koalition an bestehenden Instrumenten des europäischen Grenzregimes fest – wie etwa der Grenzmanagement-Agentur Frontex oder der Kooperation mit Drittstaaten, die Geflüchtete aufhalten sollen.
Interviews: Marlene Rudloff
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