MEDIENDIENST: Diesen Mittwoch beginnt in Köln die Veranstaltung „Tribunal: NSU-Komplex auflösen“, die Sie mitorganisieren. Was genau ist geplant?
Massimo Perinelli: Wir wollen die Perspektive der Betroffenen stärken, die bei der Aufklärung des NSU-Komplexes zu kurz kommt. Die Veranstaltung folgt einer ganz bestimmten Dramaturgie: Zunächst gedenken wir der Opfer rassistischer Gewalt. Danach klagen wir die Strukturen und Personen an, die den NSU-Komplex nicht verhindert oder sogar ermöglicht haben. Das Tribunal wird aber kein Urteil fällen. Die Anklage wird der Gesellschaft übergeben, die sich selbst ihr Urteil bilden soll.
Beim Tribunal finden Workshops, Theater-Aufführungen und Filmvorführungen statt. Wie können solche Veranstaltungsformate dabei helfen, eine rassistische Mordserie zu verarbeiten?
Ich beobachte in letzter Zeit, dass die Kunst- und Kultureinrichtungen am offensten sind, wenn es um die Aufarbeitung von Rassismus geht. Politik findet heutzutage vor allem auf den Bühnen statt. Theater- und andere Kulturveranstaltungen eignen sich besonders gut, um die Betroffenenperspektive im NSU-Komplex stark zu machen. Ein Beispiel ist die Theater-Adaption des Buchs „Schmerzliche Heimat“ von Semiya Şimşek, der Tochter des ermordeten Enver Şimşek. Auch die Stücke „Die Lücke“, „Urteile“ und „Die NSU-Monologe“ erzählen die Geschehnisse aus der Perspektive der Opfer. Wir spielen aber kein Theater.
Sie sprechen vom „NSU-Komplex“ – was meinen Sie damit?
Wenn man Betroffenen des „NSU“-Terrors zuhört, dann versteht man schnell, dass die Morde und Anschläge nur ein Anfang waren für weitere Angriffe auf die migrantische Community. Nach den Gewalttaten haben die Behörden jahrelang einzig gegen die Opfer und ihre Familien ermittelt. Dabei haben sie die Betroffenen massiv eingeschüchtert und versucht, sie mit gezielten Lügen zu verunsichern. Zum Beispiel wurde der Ehefrau eines Mordopfers gesagt, ihr Mann hätte mit Drogen gedealt, was nicht stimmte. „Komplex“ meint, dass der „NSU“ weit über die Taten des sogenannten Trios um Beate Zschäpe hinausgeht.
Bei der Vorbereitung des Tribunals hatten Sie viel Kontakt zu den Angehörigen der Mordopfer. Wie bewerten sie die Aufklärung im NSU-Prozess und in den Untersuchungsausschüssen?
Dr. MASSIMO PERINELLI ist Historiker und arbeitet als Referent für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist langjähriges Mitglied von „Kanak Attak“, Mitbegründer der Initiative "Keupstraße ist überall" und des bundesweiten Aktionsbündnisses "NSU-Komplex auflösen". Er hat zu den Themen Rassismus, Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte publiziert.
Die Betroffenen sind enttäuscht. Sie kritisieren, dass im Prozess in München zu wenige Menschen angeklagt sind, dass zu sanft mit Zeugen umgegangen wird, die dort lügen, und dass die Rolle des Staates völlig ausgeklammert wird. Das Gerichtsurteil wird nach Meinung der Betroffenen nicht die Aufklärung bieten, die sie fordern. Auch aus den Untersuchungsausschüssen sind kaum Konsequenzen gezogen worden, und wenn doch, waren es die falschen. Es gibt aber auch positive Entwicklungen: Zu Beginn des Prozesses in München haben die Betroffenen und Angehörigen geschwiegen. Die Erfahrung, dass sie nach den Morden lautstark Ermittlungen im rechtsextremen Milieu gefordert hatten und nicht gehört wurden, hat sie zum Schweigen gebracht und dieses Schweigen hat lange angehalten. Inzwischen haben sie jedoch Mut gefasst, auch vor Gericht und den Untersuchungsausschüssen ihre Geschichten zu erzählen.
Welchen Impuls erhoffen sich die Betroffenen vom Tribunal?
Die Opfer haben immer darauf hingewiesen, dass Rassismus die Grundlage des Terrors war, und wurden nicht gehört. Dieses Überhören wollen wir mit dem Tribunal überwinden. Das erwarten auch die Angehörigen. Wenn man über Rassismus redet, muss man denen zuhören, die von Rassismus betroffen sind.
Kann das „NSU-Tribunal“ konkret dazu beitragen, dass die Aufklärung zum „NSU“ vorankommt?
Ja. Wir versuchen, neue Erkenntnisse zur Aufklärung beizusteuern. Zum Beispiel haben wir das „Forensic Architecture Institute“ an der Goldsmith University in London beauftragt, die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme zu untersuchen, der während des Mordes an Halit Yozgat am Tatort war. Das Institut hat herausgefunden, dass Temme gelogen haben muss, als er gesagt hat, er habe keine Schüsse gehört und den Toten nicht gesehen. Das Beispiel zeigt: Die staatliche Aufklärung ist lückenhaft und bislang ohne Folgen, aber gesellschaftlicher Druck kann etwas bewirken.
Interview: Hanno Fleckenstein
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