Drei Jahre, nachdem der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) bekannt wurde, erscheint das Buch „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet“. Vielfach wurde kritisiert, dass sich der öffentliche Diskurs vor allem auf die Täter konzentriert hat. Im Buch kommen nun die Familienmitglieder der Opfer zu Wort. Herausgeberin ist Barbara John, die Ombudsfrau für die Opfer des NSU-Terrors und ihrer Hinterbliebenen. Diese beschreiben, wie sie die Debatte wahrnehmen, was für Konsequenzen die Morde für ihr Leben haben, wie sie den Umgang der Sicherheitsbehörden erlebt haben und sich nach Aufklärung sehnen. Ihre Berichte spiegeln auch den institutionellen Rassismus wider, der ihnen während den Ermittlungen begegnete. Der MEDIENDIENST hat einige Auszüge der Geschichten von Töchtern, Söhnen, Ehefrauen, Schwestern, Brüdern und Cousins zusammengestellt:
Abdulkerim Şimşek (Sohn von Enver Şimşek. Der Blumenhändler war das erste Opfer der Mordserie):
„Wenn man das alles erlebt, fühlt man sich plötzlich als Mensch zweiter Klasse. Da fragt man sich: Was ist los in diesem Land? Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Bis zum Tod meines Vaters habe ich selber nie Ausländerfeindlichkeit erlebt. Ich hatte viele deutsche Freunde. Erst nachdem das passiert war, begann ich zu spüren, dass ich in Deutschland nicht willkommen bin. So wie die Ermittler uns von Anfang an als »Ausländer« abgestempelt haben, haben sie mir das Gefühl gegeben: Du gehörst nicht hierher.“
Tülin Özüdoğru (Tochter von Abdurrahim Özüdoğru. Der Inhaber einer Änderungsschneiderei war das zweite Mordopfer):
„Als Betroffene habe ich in diesen Punkten bisher leider nicht viel Hoffnung. Ich habe nicht den Eindruck, dass in den letzten drei Jahren seit Aufdeckung der NSU-Zelle irgendetwas wirklich vorangegangen ist. Ich glaube nicht mehr recht an die versprochene Aufklärung aller Hintergründe und Umstände. Man hat die Opfer nicht geschützt. Es wurden schwere Fehler bei den Ermittlungen gemacht, aber ich kann sie bis heute nicht zuordnen. Ich sehe niemanden, der persönlich für diese Fehler geradestehen würde. [...] Manchmal frage ich mich: Fehlt die Möglichkeit zur Aufklärung oder der Wille?“
Ayşen Taşköprü (Schwester von Süleyman Taşköprü. Dieser wurde als drittes Mordopfer in seinem Lebensmittelgeschäft erschossen):
„Nach seinem Tod begann die Polizei sofort mit ihren Verdächtigungen. Die richteten sich besonders gegen meinen Vater. Immer und immer wieder wurde ich gefragt: »Hatten die beiden Streit?« Ich hab nur gedacht: Die würden doch nicht zusammenarbeiten, wenn sie Konflikte miteinander hätten, mein Vater und mein Bruder. Meist waren es Fragen nach Schulden, Drogen, oder der Mafia. Und immer wieder kam dieses »Hattet ihr Streit? Ist das euer Ehrenkodex?« Nach dem Motto: Bei den Türken sei es ja üblich, dass man sich gegenseitig umbringt. Ich konnte noch so oft betonen: »Bei uns ist das keineswegs üblich! Davon distanzieren wir uns. Meine Eltern, meine Geschwister und ich. Dafür sind wir doch viel zu multikulti.«“
Mustafa Turgut (Bruder von Mehmet Turgut, der als fünftes Opfer der Mordserie in einem Imbiss erschossen wurde):
„Ich finde den Verlauf des Prozesses bis jetzt nicht zufriedenstellend, aber ich habe Vertrauen in das deutsche Justizsystem. Wenn es zu einem guten Urteil kommt, kann das sicher dazu beitragen, dass meine Eltern und ich unseren Frieden finden. Wir wollen die ganze Sache aufgeklärt sehen und wir wollen, dass die Täter bestraft werden. Was eine gerechte Strafe wäre? Ich weiß es nicht. Ich mag mir nur nicht vorstellen, dass Beate Zschäpe am Ende nicht als Mörderin verurteilt würde. Das könnte ich nicht verstehen, das könnte ich auch meinen Eltern überhaupt nicht erklären. Das könnten sie nie akzeptieren.“
Elif Kubaşık (Ehefrau von Mehmet Kubaşık, der als achtes Mordopfer in seinem Kiosk erschossen wurde):
„Heute kann ich immer noch sagen: Deutschland ist meine Heimat. Aber jetzt ist es eine Heimat mit Schmerzen, nicht mit Freude, so wie vorher. Das Verhältnis hat einen Bruch bekommen. Ich fühle diesen Bruch in mir selbst. Deutschland ist meine Heimat und die Heimat meiner Kinder. Aber Deutschland ist auch das Land, in dem mein Mann ermordet wurde. Mein Mann ist in der Türkei begraben. Seitdem fühle ich mich zweigeteilt: Ein Teil von mir ist in der Türkei, einer in Deutschland.“
Gamze Kubaşık (Tochter von Mehmet Kubaşık):
„Bis zu dem Zeitpunkt, ab dem klar war, wer wirklich hinter dem Tod meines Vaters steckt, wollte ich der Öffentlichkeit immer zeigen, was für ein Mensch er war. Ich wollte sein Bild geraderücken. Ich musste ihn immer verteidigen. Aber allmählich wird mir klar: Seit ich 22 Jahre alt bin, habe ich nur an meinen Vater und die Umstände seines Todes gedacht. Nie an mich. Jetzt fange ich langsam an, nicht mehr nur Tochter zu sein. Ich fühle eine Last von meinen Schultern fallen und spüre: Ich habe eine Zukunft. Ich will wieder normal leben. Ich will nicht ewig Opfer sein.“
Familie Kiesewetter (die Polizistin Michèle Kiesewetter war das letzte Todesopfer des NSU):
„Wenn wir sagen sollen, was uns heute, sieben Jahre nach Michèles Tod, das Wichtigste ist, dann wäre es die Forderung, dass endlich die rechtsradikalen Netzwerke von damals und heute aufgedeckt werden. Sei es durch einen der vielen Untersuchungsausschüsse oder die parallele kriminaltechnische Polizeiarbeit. Doch um alles herauszufinden, ist es möglicherweise schon zu spät. Inzwischen ist so viel Zeit vergangen, so viele Unterlagen sind bereits verschwunden. Heute kann jeder sagen: Das weiß ich nicht mehr.“
„Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“ wurde von Barbara John herausgegeben, der Ombudsfrau für die Opfer des NSU-Terrors und ihre Hinterbliebenen. In diesem Buch wird Opfern und Angehörigen eine Stimme gegeben. Sie berichten über ihre Gefühle, über ihr Leben, vor und nach den Anschlägen, und sie wünschen sich die versprochene Aufklärung. Das Buch ist online bestellbar bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) oder dem Herder Verlag.
Zusammengestellt von Aylin Yavaş
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