Im März 2016 erklärte die Europäische Kommission die Absicht, die Überstellungen nach Griechenland im Rahmen der Dublin-Verordnung wieder aufzunehmen. Diese fanden de facto seit 2011 nicht mehr statt, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Aufnahmebedingungen im Land für menschenunwürdig erklärt hatte.
Dass ausgerechnet im Frühjahr 2016 die Kommission den Beschluss fasste, Griechenland erneut für alle ankommenden Flüchtlinge haften zu lassen, stieß in Athen auf große Kritik: Damals lag die Zahl der Flüchtlinge, die auf den ägäischen Inseln landeten, noch zwischen 2.000 und 3.000 pro Tag. Das “Relocation”-Programm der Europäischen Union hatte bis dahin fast keine Wirkung gezeigt: Im Rahmen des Programms hätten 120.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland in drei Jahren auf andere EU-Mitgliedstaaten umverteilt werden sollen. Im Flüchtlingscamp von Idomeni an der mazedonischen Grenze kam es immer wieder zu Ausschreitungen.
Doch inzwischen hat sich im griechischen Asylsystem viel getan:
- Aufgrund der strengen Grenzkontrollen, die im Rahmen des sogenannten EU-Türkei-Deals eingeführt wurden, ist die Zahl der Asylsuchenden, die täglich die griechischen Inseln in der Ägäis erreichen, stark zurückgegangen – von mehreren Tausend auf rund 60 am Tag im Januar 2017.
- Seitdem das UN-Flüchtlingswerk UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) für die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen zuständig sind, haben sich die Lebensbedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen auf dem Festland deutlich verbessert.
- Nach einem schleppenden Anfang zeigt das "Relocation"-Programm endlich Wirkung: Zwischen September 2015 und Februar 2017 wurden fast 10.000 Asylsuchende aus Griechenland in der Europäischen Union umverteilt. 50.000 weitere Plätze wurden bereits von EU-Mitgliedstaaten bereitgestellt.
- Seit der Novellierung des Asylgesetzes im April gibt es in Griechenland endlich ein funktionierendes Asylsystem, welches zum ersten Mal den Richtlinien der Europäischen Union entspricht. Das heißt: Alle ankommenden Asylsuchenden werden in den “Hotspots” identifiziert und registriert – und können zeitnah einen Asylantrag stellen.
Griechenland hat zwei Asylsysteme
Trotz dieser Verbesserungen kämpft Griechenland weiterhin mit den strukturellen Defiziten seines Aufnahmesystems. Denn das Land hat de facto zwei unterschiedliche Asylsysteme: Ein funktionierendes und strukturiertes Aufnahme- und Antragstellungs-System auf dem Festland und ein katastrophales System auf den Inseln. Das Problem: Die meisten Flüchtlinge erreichen Griechenland nach wie vor über die ägäischen Inseln.
Prof. Dr. VASSILIS TSIANOS unterrichtet am Institut für "Soziale Arbeit und Gesundheit" der Fachhochschule Kiel. Er ist Projekt-Koordinator des Forschungs-Schwerpunktes „Border crossings“ im EU-Projekt "transnational digital network" (MIG@NET) und Mitglied des "Rats für Migration". Er hat mehrere Publikationen zum Thema Grenzpolitik in der EU veröffentlicht.
Besonders schutzbedürftige Personen wie etwa Menschen mit Behinderungen, Minderjährige oder Familien mit Kindern werden in der Regel bevorzugt behandelt und direkt auf das Festland überstellt. Von dort sollen sie dann im Rahmen des “Relocation”-Programms auf andere EU-Staaten umverteilt werden.
Alle andere Asylsuchenden sollen theoretisch nach dem EU-Türkei-Deal in die Türkei zurückgeführt werden, um dort einen Asylantrag zu stellen. Da sie jedoch weiterhin das individuelle Recht haben, Schutz in der EU zu beantragen, stellen die meisten von ihnen einen Asylantrag in Griechenland. Das Ergebnis: Im letzten Jahr wurden weniger als 1.500 Menschen aus den "Hotspots" in die Türkei zurückgeführt. Dafür haben mehr als 51.000 Personen einen Asylantrag in Griechenland gestellt.
Entschieden wurde 2016 bislang lediglich über rund 9.000 Fälle. Das ist weniger als ein Fünftel aller Anträge. Die Erwartungen der EU lagen deutlich höher, zumal die griechischen Behörden Hilfe von Mitarbeitern des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) bekommen sollten. So hat sich ein Bearbeitungsstau entwickelt, der zu sehr langen Wartezeiten für die Flüchtlinge führt: Die durchschnittlich Bearbeitungszeit beläuft sich derzeit auf mehr als ein Jahr.
Das macht die Situation für die rund 16.000 Menschen, die in den Aufnahmeeinrichtungen auf den Inseln leben, besonders kritisch. Denn sie dürfen theoretisch die Inseln nicht verlassen, bis ihre Asylanträge entschieden sind.
Dublin-Überstellungen sind nicht das Problem
Die Aufnahmekapazitäten auf den Inseln sind längst ausgeschöpft. Die Zahl der Flüchtlinge, die untergebracht werden müssen, steigt jedoch weiter. Erst im Januar dieses Jahres konnten zum ersten Mal nach Angaben des UNHCR mehr Asylsuchende auf das Festland überstellt werden als auf den Inseln ankamen. Viele Asylbewerber leben in improvisierten Zeltlagern – auch bei Minus-Temperaturen. Drei Menschen sind im Februar an Unterkühlung im Aufnahmelager Moria auf der Insel Lesbos gestorben. Im selben Lager starben im November eine Frau und ein sechsjähriges Kind bei einem Brand.
Die Flüchtlinge in den Camps sind im Aufruhr. In dieser Situation befürchten die lokalen Bürgermeister, dass die Situation bald eskalieren wird: Einige von ihnen überlegen, die Asylsuchenden unter haftähnlichen Bedingungen einzusperren, sollte ihre Zahl weiter steigen.
Was der griechischen Regierung derzeit Sorgen macht, ist also nicht, dass mehr Flüchtlinge aus anderen EU-Ländern nach Griechenland überstellt werden. Denn überstellt werden sollen nur Menschen, die nach dem 15. März 2017 aus Griechenland weiterreisen. Dublin-Fälle würden außerdem im funktionierenden Aufnahmesystem auf dem Festland untergebracht werden.
Das größere Problem ist, dass das Aufnahmesystem auf den Inseln vollends zusammenzubrechen droht. Es ist deshalb notwendig, dass die Europäische Union das "Hotspot"-System grundsätzlich überdenkt. Die "Hotspots" auf den Inseln müssen wieder die Funktion haben, für die sie eingerichtet wurden: Flüchtlinge zu identifizieren und registrieren. Nur so kann Griechenland wieder vollständig ins Gemeinsame Europäische Asylsystem eingebunden werden.
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