Gibt es einen Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität? Diese Frage wird nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Einwanderungsländern teils intensiv diskutiert. Wissenschaftliche Studien liegen bislang vor allem für den nordamerikanischen Raum vor.
Die Untersuchungen befassen sich in der Regel mit zwei Fragen: Erhöht Migration die Kriminalitätsrate in den Aufnahmeländern? Sind Einwanderer „krimineller“ als Vergleichsgruppen in der Mehrheitsbevölkerung? Die Studienergebnisse aus Nordamerika lassen sich zwar nicht eins zu eins auf europäische Länder übertragen, spiegeln aber einige allgemeine Trends wider.
Zwischen Migration und Kriminalität besteht kein positiver, sondern ein negativer Zusammenhang. Steigende Zuwanderungsraten gehen also nicht mit höheren, sondern mit niedrigeren Kriminalitätsraten einher. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Gewalttaten: Studien aus Nordamerika weisen darauf hin, dass in Städten und Stadtvierteln mit einem hohen Migrantenanteil weniger Gewaltdelikte begangen werden als in Stadtteilen, in denen wenige Migranten leben. Manche Forscher gehen sogar davon aus, dass Zuwanderung zum drastischen Rückgang von Kriminalität in den USA in den 90er Jahren beigetragen hat.
Prof. Dr. SANDRA BUCERIUS lehrt Kriminologie und Soziologie an der University of Alberta (Kanada). Zu ihren Forschungs-schwerpunkten gehören die Themen Migration und Kriminalität. Im Rahmen einer fünfjährigen Feldforschung hat sie Jugendliche aus Einwandererfamilien begleitet, die in den Drogenhandel verwickelt waren. 2014 erschien dazu ihr Buch "Unwanted: Muslim Immigrants, Dignity, and Drug Dealing".
Die erste Generation von Migranten fällt im Durchschnitt seltener durch Straftaten auf als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Das trifft nicht nur auf Nordamerika, sondern auch auf europäische Einwanderungsländer wie Deutschland zu.
Bei der zweiten Generation hingegen lässt sich in allen westlichen Ländern ein Anstieg der Kriminalitätsraten erkennen. Kinder von Migranten werden im Durchschnitt häufiger straffällig als ihre Eltern. Vergleicht man ihre Kriminalitätsraten mit denen der nicht-migrantischen Bevölkerung, zeigt sich: In traditionellen Einwanderungsländern wie Kanada, Australien oder den Vereinigten Staaten ist die zweite Generation durchschnittlich weniger als oder etwa gleich "kriminell" wie Einwohner ohne Migrationshintergrund. In europäischen Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden sind die Studienergebnisse weniger eindeutig: Während in den meisten Deliktfeldern keine Unterschiede zwischen beiden Gruppen festgestellt werden können, scheinen Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger als die Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund etwa in Gewaltdelikte verwickelt zu sein.
Woran das liegt, zeigt ein Blick auf ihre soziale Integration in den jeweiligen Ländern – also auf ihre Zugangschancen zum Schulwesen, zum Arbeitsmarkt und zum politischen Leben.
Warum werden Menschen straffällig?
In der kriminologischen Forschung herrscht Konsens darüber, dass mangelnde soziale Integration einen großen Risikofaktor für Kriminalität darstellt. Das bestätigt auch meine Forschung in Deutschland, für die ich fünf Jahre lang Jugendliche aus Einwandererfamilien begleitet habe, die in den Drogenhandel verwickelt waren. Die jungen Männer erzählten mir, dass sie sich in vielen Bereichen der Gesellschaft ausgegrenzt fühlten – vor allem am Arbeitsmarkt. So schilderte einer der Interviewpartner: „Guck’ doch was mit Nermin passiert ist: der schickt hundert Bewerbungen als Marokkaner und er wurde nur bei den dreien eingeladen, als er gesagt hat, er wäre Italiener.“
Anders als am regulären Arbeitsmarkt sehen die Jugendlichen auf der Straße die Möglichkeit zu beweisen, dass sie „jemand sind“. Sie können die „Gesetze der Straße“ mitbestimmen – und aufsteigen: „Hier hast du halt ’ne Chance. Du kannst halt nicht nur viel mehr Kohle machen, wie jetzt bei irgendso ’nem Idiotenjob am Flughafen… es ist halt auch so, dass dich die Leute respektieren, für was du da machst.“ Dass sie kriminell geworden sind, deuten die Jugendlichen als Reaktion auf die soziale und ökonomische Ausgrenzung, die sie in Deutschland erfahren haben.
Studien aus Kanada hingegen zeigen, dass Jugendliche aus Einwandererfamilien viele Chancen für sich sehen. Das hängt auch mit ihrem Zugang zu Bildung und Arbeit zusammen: Laut den PISA-Studien hat ein Migrationshintergrund in Kanada – anders als in Deutschland – keinen negativen Einfluss auf schulische Leistungen. Zudem bieten die Schulen Migranten umfangreiche Unterstützung an – sei es in Form von Sprachkursen für die Schüler oder ausführlichen Beratungsgesprächen für die Eltern. Auch mit Blick auf politische Rechte ist die zweite Generation besser gestellt als in Deutschland: Kinder, die in Kanada geboren sind, erhalten automatisch die kanadische Staatsangehörigkeit.
Als traditionelles Einwanderungsland hat Kanada das Selbstverständnis, dass Migration gewünscht ist. Das macht es für Einwanderer und ihre Nachkommen deutlich leichter, sich mit dem Land und dem dort geltenden Rechtssystem zu identifizieren. Soziale Ausgrenzung hingegen – wie die Studien zu Deutschland zeigen – scheint bei der zweiten Generation ein Gefühl von Perspektivlosigkeit und Gleichgültigkeit auszulösen, das Kriminalität Vorschub leisten kann.
Der Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den Sandra Bucerius bei einem Pressegespräch des MEDIENDIENSTES am 6. Juli 2016 in Köln gehalten hat.
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