Medizinische Fachkräfte aus Bosnien werden derzeit gezielt von Deutschland angeworben. Bosnische Experten schätzen, dass dies allein im vergangenen Jahr über 1.000 Menschen genutzt haben, um auszuwandern – mit dramatischen Folgen für die medizinische Versorgung im Land. Und dieser Trend dürfte anhalten: So kommt eine repräsentative Studie der Universität Sarajevo zu dem Ergebnis, dass über 90 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen auswandern wollen, vor allem nach Deutschland.
Die Gründe hierfür sind offenkundig: Eine Arbeitslosenquote von über 40 Prozent (die bei Jugendlichen noch deutlich höher liegt), Armut und Perspektivlosigkeit. Hinzu kommen ein ethnisch-nationalistisch aufgebautes System, Klientelwirtschaft und Korruption. Spricht man in Sarajevo mit Wissenschaftlern und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, zeigt sich großer Pessimismus. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass viele in der Auswanderung die einzige Möglichkeit sehen, der aussichtslosen Lage zu entkommen.
Deutschland dagegen profitiert von der bosnischen Misere. Während Fachkräfte willkommen sind, sollen Flüchtlinge jedoch abgeschreckt werden. Denn Bosnien und Herzegowina (BiH) ist angeblich ein "sicherer Herkunftsstaat", in dem es keine legitimen Fluchtgründe gibt. Auf Roma, und damit den überwiegenden Teil der Flüchtlinge von dort, trifft das jedoch nicht zu.
Roma werden massiv diskriminiert
Die Verfassung beschreibt Bosnien-Herzegowina als einen Staat, dessen Grundlage nicht individuelle Bürger, sondern drei Völker sind: Bosniaken, Serben und Kroaten. Die politische Ordnung basiert auf einer ausbalancierten Repräsentation dieser Gruppen. Deshalb können Roma und Juden nicht in die zweite Kammer der Volksvertretung gewählt werden, nicht für die Präsidentschaft kandidieren und sind weitgehend vom Zugang zur staatlichen Verwaltung ausgeschlossen, dem größten Teilarbeitsmarkt.
Die politische Diskriminierung von Roma und Juden ist also in der Verfassung verankert. Das hat 2009 zu einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geführt. Zudem hat die EU eine menschenrechtskonforme Verfassungsänderung zur Bedingung für die Fortführung des Assoziierungsprozesses erklärt. Auch wirtschaftliche Hilfen wurden deshalb ab 2011 erheblich eingeschränkt. Dennoch war Bosnien-Herzegowina nicht bereit, eine Änderung der Verfassung vorzunehmen, die die Diskriminierung von Roma und Juden beendet.
Prof. Dr. ALBERT SCHERR ist Leiter des Instituts für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er ist Mitglied im "Rat für Migration" (RfM) und hat zahlreiche Publikationen zur Migrations- und Flüchtlingsforschung sowie zu den Themen Bildung, Diskriminierung und Rassismus veröffentlicht. 2023 ist er als Visiting Professor bei der German Jordanian University in Amman tätig.
Seit dem 1. Juni 2015 ist auf Initiative Deutschlands und Großbritanniens das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen zwischen der EU und BiH wieder in Kraft. Unter dem Titel „Compact for Growth“ wurde damit der Wirtschaftsförderung Vorrang vor dem menschenrechtlichen Diskriminierungsverbots gegeben.
Verlässliche Angaben zur Zahl der Roma und Juden, die noch in BiH leben, gibt es nicht. Die Daten der letzten Bevölkerungserhebung aus dem Jahr 2013 werden nicht veröffentlicht – aus Furcht vor Ergebnissen, die die gleichmäßige Proportionalität zwischen Bosniaken, Kroaten und Serben in Frage stellen könnten. Schätzungen gehen von einer großen Spannweite von 10.000 bis 100.000 Roma bei einer Gesamtbevölkerung von 3,8 Millionen aus. Die Zahl der Juden, die heute noch in BiH leben, wird auf rund 500 geschätzt.
Die Berichte der Europäischen Kommission zeigen, dass die Roma-Minderheit in Bosnien-Herzegowina – ebenso wie in den anderen Westbalkan-Staaten – massiv diskriminiert ist. Das hat weitreichende Folgen: Die Kindersterblichkeit ist dreimal höher als im Bevölkerungsdurchschnitt, nur zwei Drittel der Kinder besuchen die Grundschule, nur knapp ein Viertel weiterführende Schulen. Sie sind überproportional häufig von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen und müssen in allen gesellschaftlichen Bereichen mit Ablehnung rechnen.
So verdeutlicht die Jugend-Studie der Universität Sarajevo, dass die soziale Ablehnung von Roma in der Bevölkerung weit verbreitet ist: 41 Prozent der Befragten im Alter von 15–27 Jahren lehnten jeden persönlichen Kontakt zu Roma ab, nur 11 Prozent würden Roma in ihrer Nachbarschaft akzeptieren. Diese Werte liegen mit Ausnahme der Albaner, die ähnlich stark abgelehnt werden, bei allen anderen Ethnien und Nationalitäten niedriger.
Wirtschaft hat Vorrang vor Menschenrechten
Dennoch wird Roma aus BiH, wie aus den anderen vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten, in Deutschland die Anerkennung als Flüchtlinge verweigert – obwohl im europäischen Recht kollektive Diskriminierung ausdrücklich als legitimer Fluchtgrund gilt. Zum Flüchtling wird man nicht allein durch politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts, sondern auch durch staatliche und gesellschaftliche Diskriminierung, die den Zugang zu Bürger- und Menschenrechten faktisch verhindert.
Die Rede vom „sicheren Herkunftsstaat“ stellt folglich eine Beschönigung dar, die darauf zielt, politische Verantwortung gegenüber einer diskriminierten Minderheit zu verweigern. Deutschland als bevorzugtes Auswanderungsland für Bosnier hat ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem: Während die wirtschaftliche Zusammenarbeit gestärkt und Qualifizierte gezielt als Migranten angeworben werden, wird denjenigen, die unter den Folgen von Diskriminierung leiden, die Anerkennung als Flüchtlinge verweigert.
Das widerspricht eklatant der Berufung auf die Menschenrechte als Wertegrundlage und weist die historische Verantwortung zurück. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Westbalkanstaaten wurde Juden und Roma im NS-Regime systematisch verfolgt und ermordet. Davon ist aber nie die Rede, wenn die konsequente Abschiebung sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge gefordert wird.
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