Der nachfolgende Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines Artikels von Hacı-Halil Uslucan, der am 10. März in der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" erschienen ist. Der Originaltext ist hier abrufbar.
Mit knapp drei Millionen Menschen stellen Türkeistämmige die zweitgrößte Migrantengruppe in Deutschland. Im letzten Jahr sind sie wiederholt in den Fokus öffentlicher Debatten gerückt: Nach dem Putschversuch in der Türkei etwa gingen Tausende Menschen in deutschen Städten auf die Straße, um für die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) zu demonstrieren. Im Vorfeld des Referendums am 16. April versuchen Erdoğan-Anhänger und -Kritiker, Türkeistämmige in Deutschland für ein "Ja" oder "Nein" zur Verfassungsänderung zu mobilisieren.
Beides zeigt: Die türkeistämmige Community in Deutschland interessiert sich für die Entwicklungen in der Türkei und bezieht dazu teils öffentlich Stellung. Oft heißt es, diese Bezüge zum Herkunftsland seien problematisch und hinderlich für die Integration. Tatsächlich aber sind sie eine natürliche Folge von Migration. Denn viele Einwanderer geben ihre Beziehungen zum Herkunftsland nicht gänzlich auf, sondern sind in ihrem Alltag häufig in mehrere soziale und kulturelle Netze eingebunden. Um die Situation von Türkeistämmigen in Deutschland besser verstehen und einordnen zu können, ist es daher wichtig, auch einen Blick auf die Türkei zu werfen.
Konfliktlinien der Türkei spiegeln sich in Deutschland wider
Die türkische Gesellschaft ist von drei Konfliktlinien gekennzeichnet, die mit der Migration nach Deutschland "importiert" wurden:
Prof. Dr. HACI-HALIL USLUCAN ist wissenschaftlicher Leiter des "Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung" (ZfTI) an der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Themen Integration, Bildung und kulturvergleichende Psychologie.
Auf politischer Ebene gibt es Spannungen zwischen laizistischen und religiösen Türken – also denjenigen, die eine strikte Trennung von Staat und Kirche befürworten, und denjenigen, die sie ablehnen. Der Laizismus geht auf die Republikgründung im Jahr 1923 zurück und wurde damals von einer westlich orientierten Elite verordnet. Von einem Großteil der Bevölkerung wurde er jedoch nur widerwillig angenommen. Diese Spannung macht sich derzeit auch in der türkischen Community in Deutschland bemerkbar.
Hinzu kommt der ethnisch begründete Konflikt zwischen Türken und Kurden. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Türkeistämmigen in Deutschland sind ethnische Kurden. Das entspricht in etwa ihrem Bevölkerungsanteil in der Türkei.
Religiös bedingt sind die Konflikte um die unterschiedlichen Deutungen des Islam. Etwa zwei Drittel der Türkeistämmigen in Deutschland sind sunnitische Muslime, zwischen 12 und 15 Prozent sind Aleviten. Die anderen gehören entweder kleineren Glaubensgemeinschaften an oder sind konfessionslos.
Wie religiös sind Türkeistämmige?
Laut dem "Werteatlas der Türkei" gehört die türkische Bevölkerung zu den religiösesten weltweit: Während sich 1990 etwa 75 Prozent der Türken als religiös definierten, waren es 2011 bereits 85 Prozent. Auch für Türkeistämmige in Deutschland scheint Religion eine wichtige Rolle zu spielen:
- Eine Studie aus Nordrhein-Westfalen zeigt: Der Anteil der "eher" bis "sehr" religiösen Türkeistämmigen ist von 2000 bis 2013 von rund 57 Prozent auf knapp 82 Prozent gestiegen.
- Aus einer Befragung unter Jugendlichen geht hervor: 86 Prozent der Türkeistämmigen zwischen 14 und 19 Jahren definieren sich über die Kategorie "Muslim". Zum Vergleich: Von den befragten Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund gaben nur etwa acht Prozent an, sich als "Christen" zu fühlen. Wie wichtig Religion für türkeistämmige Jugendliche ist, scheint auch von ihrem Bildungsgrad abzuhängen. So gaben Hauptschüler häufiger an, sich als Muslime zu fühlen, als Gymnasialschüler.
- Eine Untersuchung von 2011 zeigt: Für Türkeistämmige stellt Religion einen wichtigen Orientierungspunkt dar, der die Wertestruktur deutlich prägt. Für Menschen ohne Migrationshintergrund hingegen ist Religiosität eher eine private, spirituelle Angelegenheit, die andere Wertauffassungen kaum berührt.
Welche Parteien wählen sie?
In Deutschland unterstützen Türkeistämmige am ehesten die SPD (rund 70 Prozent), gefolgt von Bündnis 90/Die Grünen (rund 13 Prozent) und der Links-Partei (rund zehn Prozent). Nur sechs Prozent sympathisieren mit der CDU/CSU. Bei Wahlen in der Türkei zeigt sich ein gänzlich anderes Bild: Sowohl bei den Parlamentswahlen 2015 als auch bei der Präsidentschaftswahl 2014 stimmte eine Mehrheit der türkeistämmigen Community in Deutschland für die derzeit regierende und konservative AKP. Je nach Bundesland lagen die Zustimmungswerte bei 50 bis 70 Prozent. Die linksliberale HDP erhielt dagegen nur rund 16 Prozent der Stimmen, gefolgt von der sozialdemokratischen Partei CHP mit etwa 15 Prozent (siehe Grafik).
Die Parteipräferenzen in Deutschland und der Türkei scheinen auf den ersten Blick widersprüchlich. Sie lassen sich jedoch erklären: Die Beliebtheit der SPD und Grünen ist vermutlich darauf zurückführen, dass sich die Parteien in ihren Programmen für die Belange von Minderheiten einsetzen. Türkeistämmige scheinen hier also von pragmatischen Überlegungen und Eigeninteressen geleitet zu sein.
Die Präferenzen für türkische Parteien lassen sich mit den verschiedenen Migrationsphasen erklären: Ein Großteil der türkeistämmigen Community kommt aus sogenannten Gastarbeiter-Familien, die in der ersten Phase von 1961 bis 1973 nach Deutschland eingewandert sind. Sie kamen vor allem aus ländlichen Gebieten und waren daher weitestgehend konservativ-islamisch geprägt. Es ist zu vermuten, dass sie einen Großteil der hier lebenden AKP-Wähler ausmachen. In der zweiten Phase, den 80er und 90er Jahren, kamen verstärkt Menschen mit einer politisch linken Gesinnung oder aus den überwiegend von Kurden bewohnten Gebieten und suchten in Deutschland Asyl. Zusammen mit den hier aufgewachsenen linksliberalen Türkeistämmigen scheinen sie den Wählerkreis für die HDP zu stellen.
Mit welchem Land identifizieren sie sich?
Eine Studie aus Nordrhein-Westfalen zeigt: 18 Prozent der Türkeistämmigen fühlen sich nur in Deutschland zuhause. Weitere 30 Prozent sehen sowohl Deutschland als auch die Türkei als ihre Heimat. Zusammengefasst hat also knapp die Hälfte der Türkeistämmigen Heimatgefühle für Deutschland. Rund 48 Prozent empfinden nur die Türkei als ihr Zuhause. Vier Prozent fühlen sich in keinem der beiden Länder heimisch (siehe Grafik).
Beobachtet man die Heimatgefühle im Zeitverlauf, fällt auf: Die Verbundenheit mit der Türkei nimmt seit 2011 zu, die mit Deutschland eher ab. Das hängt auch mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in beiden Ländern zusammen. In der Türkei etwa buhlt die AKP seit einigen Jahren deutlich stärker um die Gunst der "Auslandstürken" und bezieht sie in ihre politischen und strategischen Überlegungen ein – zum Beispiel durch die Schaffung von Wahlmöglichkeiten in den Konsulaten. In Deutschland wiederum führen öffentliche Debatten über die angeblich gescheiterte Integration von "Türken" dazu, dass sich viele Türkeistämmige hierzulande nicht zugehörig fühlen. So zeigt eine Befragung, dass sich 72 Prozent der Jugendlichen mit Migrationsbezügen in die Türkei über die Kategorie "Ausländer" definieren.
Mit welchem Land sich Türkeistämmige identifizieren können, hängt jedoch auch von anderen Faktoren ab. So fühlen sich Angehörige der ersten Generation häufiger nur mit der Türkei verbunden als ihre Kinder und Enkel. Je stärker die Menschen in soziale Netzwerke eingebunden sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich Deutschland und beiden Ländern zugehörig fühlen. Diskriminierungserfahrungen hingegen führen eher dazu, dass sich Türkeistämmige stärker mit ihrem Herkunftsland identifizieren.
All diese Ergebnisse machen deutlich, wie wichtig eine gleichberechtigte Teilhabe ist: Türkeistämmige werden Deutschland eher als ihr Zuhause empfinden, wenn sie an der Gesellschaft teilhaben und mitwirken können. Eine staatsbürgerliche, soziale und kulturelle Gleichberechtigung sowie der Abbau von Diskriminierung in der Bildungs- und Arbeitswelt sind daher unabdingbar für die Integration. Denn wenn Menschen das Gefühl vermittelt bekommen, nicht dazuzugehören, erscheint es für sie psychologisch widersinnig, die Werte jener Gruppe zu leben, die sie gar nicht in ihrer Mitte haben will.
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