Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, haben am 11. Juni den Verfassungsschutzbericht für das vergangene Jahr vorgestellt. Stark verkürzt beinhaltet er die gleichen Kernbotschaften wie 2011: Der Demokratie drohe mehr Gefahr durch Islamisten und Rechtsextreme.
Vor allem die Gruppe der Salafiten, die im Verfassungschutzbericht als Salafisten bezeichnet werden, bereiten dem Staatsschutz Sorge. Ihre Zahl sei 2012 "sprunghaft" auf 4.500 Personen angestiegen. Liest man im Bericht die Seiten 266 und 27 stellt sich heraus: Salafiten wurden bislang nicht vom Verfassungsschutz beobachtet, die Zahlenangaben seien für 2011 "nicht gesichert", werden aber auf 3.800 Personen geschätzt. So kommt es zum sprunghaften Anstieg von 700 Personen.
Insgesamt gibt es laut Bericht 30 bundesweit aktive islamistische Organisationen. Das "islamistische Personenpotenzial" in Deutschland sei von 38.080 im Jahr 2011 auf 42.550 in 2012 gestiegen. Die Erklärung wird allerdings auf Seite 202 leicht nachvollziehbar: Der Anstieg beruht auf der "erstmaligen Einrechnung der den salafistischen Bestrebungen zugeordneten Mitglieder/Anhänger in das Gesamtpotenzial".
Experten weisen jedoch darauf hin, dass die Mehrzahl der ultrakonservativen Salafiten unpolitisch ist und Gewalt ablehnt, wie zum Beispiel das "Deutsche Islamforum" in einer aktuellen Pressemitteilung. Ähnlich sieht es die „Arbeitsstelle Islamismus und Ultranationalismus“ beim "Zentrum Demokratischer Kultur". In einer Handreichung zum Salafismus geben die Autoren jedoch nicht unbedingt Entwarnung und plädieren für einen stärkeren Fokus auf das Thema in der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen.
Beobachtung von Milli Görüş umstritten
Die mit Abstand größte Gruppe in der Liste der Organisationen mit "Islamismuspotenzial" ist die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG), die mitgliederstärkste türkische Gruppierung in Deutschland. Mit 31.000 Mitgliedern stellt sie mehr als drei Viertel des Islamismuspotenzials dar. Allerdings ist ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz umstritten.
Manfred Murck, Verfassungsschutz-Chef in Hamburg, hat laut Medienberichten vor Kurzem erklärt, Milli Görüş in seinem Bundesland aus der Beobachtung nehmen zu wollen. Damit eckte er zwar allerdings unter Kollegen an und IGMG wird derzeit auch in Hamburg weiter beobachtet. Doch er ist mit seiner Ansicht nicht allein.
Auch unter Migrations- und Islamwissenschaftlern finden sich einige, die von einer pauschalen Skepsis gegenüber Milli Görüş abraten. Werner Schiffauer etwa bezeichnet die Mitglieder in seinem 2010 erschienenen Buch über die IGMG als "Postislamisten". Er erkenne eine Entwicklung von einer früher stark an die Türkei gebundenen antiwestlichen Organisation mit islamistischer Ideologie, hin zu einer pragmatischen Interessenvertretung mit verfassungskonformen Inhalten.
Auch der Verfassungsschutz betont, dass Milli Görüş als Organisation Gewalt ablehnt und schreibt auf Seite 203 seines aktuellen Berichts vorsichtig optimistisch: "Die IGMG (...) befindet sich in einer personellen und strukturellen Umbruchphase. Der Vorsitzende ist bemüht, die Arbeit der IGMG zu professionalisieren und das Profil der Organisation religiöser (statt politisch, Anm. d. Red.) auszurichten."
Jürgen Miksch und Yaşar Bilgin vom Deutschen Islamforum stellen in diesem Kontext eine Neuberechnung an: "Wenn von der Gesamtzahl der im Verfassungsschutzbericht genannten 42.550 ‘Islamisten’ die 31.000 Mitglieder der IGMG und die etwa 3.000 religiösen und unpolitischen Salafiten abgezogen werden, dann bleiben noch etwa 9.000 ‘Islamisten’. Diese Zahl kann als Rückgang der Mitgliederzahl in islamistischen Organisationen interpretiert werden."
Von Ferda Ataman, MDI
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