Etwa 40.000 Geflüchtete werden zurzeit auf den fünf griechischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos gegen ihren Willen festgehalten. Weil die Lager für so viele Menschen nicht ausgerichtet sind, haust der Großteil der Geflüchteten in selbstgebauten Zelten im Wald, ohne Wasser und Strom. Viele von ihnen sind krank und bekommen keine angemessene Gesundheitsversorgung. Mehrere Geflüchtete haben jetzt erfolgreich vor dem höchsten europäischen Menschenrechtsgericht geklagt, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Welche Folgen die Gerichtsentscheidungen für das „Hotspot“-System insgesamt haben, ist unklar.
Geflüchtete klagen gegen die „Hotspots“ – mit Erfolg
Auf Samos etwa haben bislang 43 Geflüchtete gegen die Zustände in den Hotspots geklagt. Unterstützt wurden sie von der deutschen Nichtregierungsorganisation Refugee Law Clinic Berlin auf Samos. Die Klagen hatten Erfolg: In 37 der Fälle entschied der EGMR, dass die Kläger*innen an einem anderen Ort untergebracht werden müssen. Denn die Bedingungen in den Lagern würden das Risiko einer „unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung" bergen. Die griechische Regierung musste zum Beispiel wegen einer Gerichtsentscheidung eine hochschwangere Frau, die zwischen Schlangen und Ratten in einem Zelt lebte, in einem Wohncontainer unterbringen.Quelle
Auch auf den Inseln Lesbos und Chios klagten mehrere Geflüchtete. Unterstützt werden sie dabei von der griechischen Nichtregierungsorganisation (NRO) Refugee Support Aegean auf Lesbos und der deutsch-griechischen NRO Equal Rights Beyond Borders auf Chios. Auch hier waren viele Klagen erfolgreich. Weitere Verfahren sind vor dem EGMR anhängig.Quelle
Die Entscheidungen gelten nur für den Einzelfall
Für die anderen Geflüchteten in den „Hotspots“ haben die Gerichtsentscheidungen allerdings keine Folgen: Die Entscheidungen des EGMR gelten immer nur für den Einzelfall. Die Möglichkeit von Sammelklagen gibt es nicht. So hat der EGMR zum Beispiel im Fall eines minderjährigen Geflüchteten, der auf Samos ohne Verwandte in einem Zelt im Wald leben musste, geurteilt, dass er einen Vormund bekommen und besser untergebracht werden muss. Auf Samos gibt es jedoch aktuell 315 unbegleitete Minderjährige - für sie ändert sich nichts. Denn sie müssten selbst klagen.Quelle
Um für alle Betroffenen ein Gerichtsverfahren zu führen, würde die Zahl der Anwält*innen vor Ort aber nicht ausreichen: Denn die Geflüchteten dürfen die Insel nicht verlassen und sind daher darauf angewiesen, dass Nichtregierungsorganisationen und Anwält*innen ihre Büros auf die Inseln verlegen. Das ist schon wegen des Umzugs nicht machbar. Es gäbe auch nicht genug Spendengelder, um ihre Arbeit auf den Inseln zu finanzieren. Der Jurist Robert Nestler von Equal Rights Beyond Borders betont außerdem, dass die vielen Einzelverfahren nicht das Ziel sein können: „Dass wir am laufenden Band Verfahren gewinnen, zeigt ja, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ein strukturelles Problem. Das muss politisch angegangen werden – wir können das mit unseren Einzelfall-Klagen nicht leisten.“
Die Bedeutung der Gerichtsentscheidungen? „Eine Bankrott-Erklärung für das Hotspot System“
Die meisten Kläger*innen der vergangenen Monate waren Schwangere, unbegleitete Minderjährige oder erkrankte Personen. Ob eine gesunde erwachsene Person ebenfalls vor dem EGMR erfolgreich wäre, ist unklar. Außerdem sind die Entscheidungen vorläufig: Weil in den „Hotspots“ die Gesundheit und das Leben der Geflüchteten akut bedroht sind, entscheidet der EGMR ausnahmsweise innerhalb von wenigen Tagen. Das endgültige Urteil fällt das Gericht erst nach einigen Monaten oder sogar Jahren.
Die aktuellen Entscheidungen seien dennoch sehr bedeutsam, sagt die Völkerrechtsprofessorin Nora Markard: Sie stellten fest, dass in den Hotspots die allgemeinen Standards, die europaweit für die Behandlung von Asylsuchenden gelten, nicht eingehalten werden. Zudem zeigten sie, dass dort das menschenrechtliche Minimum unterschritten wird, das durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) festgelegt wird. „Daher muss man ganz klar sagen: Die Eilentscheidungen sind eine Bankrott-Erklärung für die Hotspots", so Markard.
Die deutsche Ratspräsidentschaft als Chance?
Die Bundesregierung übernimmt im Juli die EU-Ratspräsidentschaft und will einen Schwerpunkt auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) legen. Das Hotspot-System will sie beibehalten oder sogar ausbauen.
Nora Markard warnt davor: „Wenn man die bisherigen Hotspots als Experiment für die zukünftige EU-Asylpolitik betrachten möchte, dann muss man sagen: Das Experiment ist gescheitert.“ Vermeintliche Schnellverfahren an den Außengrenzen seien immer anfällig für systematische Menschenrechtsverletzungen. Sie dauerten stets länger, als man denkt, und die Menschen würden unter unwürdigen Bedingungen untergebracht, sagt Markard.
Der Migrationsforscher Vassilis Tsianos äußert die Hoffnung, dass sich die Situation für Geflüchtete in den Hotspots durch die deutsche Ratspräsidentschaft verbessern kann. „Die Bundesregierung muss in den asylpolitischen Maßnahmen die EGMR-Urteile berücksichtigen. Deswegen birgt die deutsche Ratspräsidentschaft die Chance, dass rechtsstaatliche Maßstäbe an den europäischen Außengrenzen stärker eingehalten werden", so Tsianos.
Von Donata Hasselmann
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