MEDIENDIENST: Es gibt gerade viel Aufsehen um die Gründung der Partei "Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch", die der AKP nahestehen soll. Wie schätzen Sie die Partei ein?
Yunus Ulusoy: Vorweg: Es ist nicht die erste Partei, die sich in dem Kontext gründet. Es gibt die BIG Partei, Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit, die auch türkeistämmige Wähler*innen anspricht, und die Allianz Deutscher Demokraten, die anscheinend nicht mehr aktiv ist. Die Parteien fischen im selben Wählermilieu.
Und zwar?
Unter Familien und Nachkommen türkischer Gastarbeiter*innen. Viele von ihnen kamen aus dem ländlichen Raum, waren konservativ, national und religiös eingestellt. Zunächst haben sie sich politisch oft nach der Frage positioniert, welche Partei ihnen als "Ausländerin" am nächsten steht. Und das war oft die SPD oder später die Grünen – die Tendenz ist immer noch da, auch wenn sie in den letzten Jahren etwas bröckelt. Einige fühlen sich politisch nicht repräsentiert, etwa in ihren konservativen Werten oder der Haltung zur Türkei. Es gibt ein Gefühl der Ausgrenzung und Vernachlässigung, dass sich niemand mit ihnen auseinandersetzt – ein Gefühl, welches auch der türkische Präsident Erdoğan unter Auslandstürken immer wieder anzusprechen versucht.
Die BIG Partei war bisher nur vereinzelt auf kommunaler Ebene erfolgreich. Hat DAVA denn eine bessere Chance?
Beide Parteien haben die gleiche Zielgruppe, da gibt es keinen Unterschied – und sie werden dort um Wähler*innen-Stimmen konkurrieren. Auch die Themensetzung wird sehr ähnlich sein. Einen deutlichen Unterschied gibt es personell: Die BIG Partei war immer vor allem nur über eine Person, den Vorsitzenden Haluk Yildiz, bekannt. Er ist im Frankfurter Stadtrat mit zwei weiteren Parteimitgliedern vertreten. DAVA tritt nun mit mehreren bekannten Personen an, die eine breite Vernetzung in die Community und politische Erfahrung mitbringen. Das könnte mehr Wählerinnen und Wähler anziehen.
Die Gründungsmitglieder stehen der AKP sehr nahe, viele sehen deshalb eine Einflussnahme Erdoğans auf die Gründung und spätere Themensetzung der Partei.
DAVA bestreitet bisher die AKP-Nähe. Personell liegen dafür aber einige Indizien vor: Der Spitzenkandidat war jahrelang im Vorstand der Union der Internationalen Demokraten (UID), die als Lobby-Organisation der AKP in Europa gilt. Auf Platz zwei ist ein ehemaliger wichtiger DITIB-Funktionär. Auch der Name DAVA deutet auf eine AKP-Nähe hin. Er spielt auf den arabischen Begriff Da'wa an, den Erdoğan selbst oft verwendet. Er hat verschiedene Bedeutungen, etwa die Bemühung, den Lehren des Islams im eigenen Leben wie auch in der Gemeinschaft zur Geltung zu bringen. Im politischen Kontext von Erdoğan geht es um ein Loyalitäts- und Bindungsinstrument gegenüber seinen Wähler*innen. Ob Erdoğan die Gründung initiiert hat – darüber lässt sich nur spekulieren, ich bezweifle das. Er genießt hier bereits hohe Popularität, ist medial und durch Organisationen wie die UID sehr präsent. Es stellt sich die Frage, wie eine solche Kleinst-Partei seine Interessen hier durchsetzen könnte. Aber die Verbindung besteht natürlich dadurch, dass DAVA Wähler*innen ansprechen wird, bei denen auch die AKP Anklang findet. Mein Weg wäre nicht die Dämonisierung, sondern eine sachliche Auseinandersetzung, auch um die möglichen Wähler*innen dieser Partei.
Wie viele Wähler*innen könnte die Partei denn für sich gewinnen?
Das ist schwer zu sagen. In Deutschland gibt es rund 1,5 Millionen deutsche Staatsbüger*innen mit Bezügen zur Türkei – schätzungsweise rund eine Million sind wahlberechtigt. Aus der Türkei-Wahl und der Unterstützung der AKP dabei können wir keinerlei Rückschlüsse ziehen. Dort sind ja nur Personen wahlberechtigt, die entweder nur die türkische Staatsbürgerschaft haben oder beide Pässe. Erstere dürfen hier nicht wählen. Von den Doppelstaatler*innen gibt es rund 290.000 – inklusive minderjähriger Personen. Es gibt aber keine Daten zu ihrem Wahlverhalten. Unter den Wahlberechtigten sind säkulare Menschen ohne feste religiöse Bindung, Wähler*innen mit Wahlhabitus zu den etablierten Parteien, Alevit*innen, aber auch Personen, deren Familien in den 1980er und 1990er Jahren aus politischen Gründen die Türkei verlassen haben oder der kurdischen Minderheit angehören. Für diese Gruppen ist die Partei nicht wirklich interessant.
Yunus Ulusoy ist Programmverantwortlicher für Transnationale Verbindungen Deutschland-Türkei am Zentrum für Türkeistudien der Universität Duisburg-Essen. Der Ökonom arbeitet unter anderem zu innen- und außenpolitische Entwicklungen in der Türkei, zu deutsch-türkischen Beziehungen sowie zur Wahlbeteiligung Deutscher mit türkischer Einwanderungsgeschichte.
DAVA möchte bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai antreten. Wie stehen denn da die Chancen?
Die Hürde, ins Europaparlament einzuziehen ist deutlich niedriger als für die Landtage oder den Bundestag. Da besteht schon eine Chance, mindestens einen Sitz zu gewinnen. Deutschland hat 96 Sitze im Europaparlament, es gibt keine Prozent-Hürde. Rund 0,5 Prozent aller Stimmen könnten schon dafür ausreichen, einen Sitz zu ergattern. Das wären circa 190.000 Stimmen bei ähnlicher Wahlbeteiligung wie 2019. Die BIG Partei erreichte bei der letzten Europawahl 0,2 Prozent der Stimmen, rund 69.000 Personen haben für sie gestimmt. DAVA bringt bessere Voraussetzungen mit, die Gründungsmitglieder sind gut vernetzt in der Community, sie hat also eine Chance.
Ein Abgeordneter ist erstmal nicht viel...
Symbolisch wäre es ein großer Erfolg, mit einem Abgeordneten im Europaparlament vertreten zu sein. Es könnte eine Initialzündung sein, um sich dann weiter als Partei zu etablieren. Auf kommunaler Ebene könnte DAVA den Erfolg dann fortführen, wenn es ihr gelingt, sich zu organisieren.
Und auf Landes- und Bundesebene?
Da sehe ich keine Chance. Die Hürden für die Landtage und den Bundestag sind zu hoch, dafür müsste die Partei deutlich mehr Wähler*innen mobilisieren. Das wird sie vermutlich nicht schaffen.
Könnte die Partei denn attraktiv für junge Wähler*innen sein?
Das wird die große Baustelle für die Partei werden. Für Personen, die sich ausgeschlossen fühlen, könnte sie schon eine Option sein. Aber viele junge Wähler*innen mit Bezügen zur Türkei leben bereits in der dritten Generation in Deutschland. Sie haben andere Erfahrungen gemacht als ihre Eltern und Großeltern, ihre gesamte Sozialisation in Deutschland erlebt und haben andere Lebensentwürfe. Sie leben ihre Religiosität anders, haben einen anderen Emanzipationsanspruch. Es wird sich zeigen, ob DAVA versuchen wird, an die jungen Menschen heranzukommen, und ob ihr das gelingt.
Und wie sieht es mit anderen migrantischen Gruppen aus?
Ich glaube kaum, dass sie für andere Gruppen interessant sein wird. Eine Möglichkeit wäre die Öffnung hin zu einer Vielfalts-Partei, die sich wirklich für Antirassismus einsetzt. Dafür müsste sie sich aber zu sehr von ihrem konservativen und türkisch-nationalem Wählermilieu wegbewegen. Die andere Möglichkeit wäre, eine muslimisch-türkisch-arabische Protestpartei zu werden. Aber auch das halte ich für unwahrscheinlich, dafür gibt es zu viele historische und kulturelle Hürden zwischen Menschen aus der Türkei und dem arabischen Raum.
Gibt es ähnliche Entwicklungen in anderen europäischen Ländern?
In den Niederlanden gibt es seit 2015 die Partei DENK, die sich auch an türkeistämmige Wähler*innen richtet. 2019 hat sie es nicht in das Europaparlament geschafft. In anderen europäischen Ländern ist die türkische Community nicht so groß wie in Deutschland, die türkische Gastarbeitermigration spielte zwar eine Rolle, ist aber in diesen Ländern nicht so präsent wie in Deutschland.
Interview: Andrea Pürckhauer
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