Nur wenige Institutionen wissen, wie viele ihrer Beschäftigten oder Mitglieder einen Migrationshintergrund haben. Oft ist allenfalls die Staatsbürgerschaft bekannt. Menschen, die eingebürgert sind beziehungsweise deren Eltern eingewandert sind, werden nicht erfasst.
Als erste große Mitgliederorganisation in Deutschland hat die IG Metall eine Studie dazu durchführen lassen – mit äußerst interessanten Ergebnissen. Anders als zunächst erwartet, liegt der Anteil der Mitglieder mit Migrationshintergrund mit schätzungsweise 21,7 Prozent ziemlich nah am Bevölkerungsdurschnitt. Die IG Metall ist damit die erste Groß-Organisation in Deutschland, die sich in Bezug auf den Migrationshintergrund als „Spiegel der Gesellschaft“ bezeichnen kann. Das gilt nicht nur, wenn man die Bevölkerung Deutschlands zugrunde legt, sondern ebenso für die Metall- und Elektroindustrie, in der der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ebenfalls bei rund 20 Prozentliegt.
Ein noch höherer Anteil zeigt sich bei IG Metall-Mitgliedern, die eine Funktion im Betrieb oder in der Gewerkschaft ausüben: Ein Drittel von ihnen hat einen Migrationshintergrund. Einzig unter Betriebsratsvorsitzenden sind Personen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert.
Dr. SERHAT KARAKAYALI arbeitet am "Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrations-forschung" (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gemeinsam mit anderen Forschern führte er die Studie „Mitglieder mit Migrationshintergrund in der IG Metall“ durch. Er forscht außerdem zu den Themen Politische Soziologie der Migration, irreguläre Einwanderung, Solidarität in der Migrationsgesellschaft und Integrationspolitiken.
Das am häufigsten vertretene Herkunftsland unter allen Mitgliedern mit Migrationshintergrund ist mit 17,2 Prozent die Türkei, gefolgt von Polen, Italien, Kasachstan, Russland, Rumänien, Griechenland, Frankreich, Tschechien, Österreich und Slowenien. Insgesamt sind Mitglieder mit Migrationshintergrund im Schnitt jünger als die ohne – 47,5 Jahre im Vergleich zu 52,5 Jahren. Im Gegensatz zum Alter unterscheidet sich die Geschlechterstruktur kaum: 81,7 Prozent der Gesamtmitglieder sind männlich. In der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund sind es 83,3 Prozent.
Wieso ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund so groß?
Zwar stehen Gewerkschaften der Rekrutierung von Arbeitskräften aus dem Ausland traditionell nicht unkritisch gegenüber. Denn sie befürchteten oft, dass so das Arbeitskräfteangebot ausgeweitet werden soll, um die Verhandlungsmacht der Gewerkschafen zu schwächen oder um ausgehandelte Löhne zu unterlaufen. So hatten sich deutsche Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise 1973 für den Anwerbestopp von ausländischen Arbeitnehmern ausgesprochen.
Andererseits erkannten Gewerkschaften früh die Notwendigkeit, Migranten zu organisieren und in ihre Struktur zu integrieren. Die IG Metall richtete schon 1961 das Referat „Ausländische Arbeitnehmer“ ein. Auch erkannte sie ausländische Arbeitnehmer 1983 als „eigenständige Personengruppe“ an und ermöglichte ihnen damit besondere Mitbestimmung bei Beschlüssen des Gewerkschaftstages.
Als ein weiterer Grund für die hohe Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund in Gewerkschaften gilt das Betriebsverfassungsgesetz, das 1972 eingeführt wurde. Es regelt, dass auch Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit bei Betriebsratswahlen wählen und gewählt werden können. Da Gewerkschaftsmitglieder oft auch in Betriebsräten engagiert sind, liegt die Vermutung nahe, dass das Betriebsverfassungsgesetz dazu geführt hat, dass sich Gewerkschaftsmitglieder mit Migrationshintergrund stärker engagieren.
Neben diesen ermutigenden Befunden zeigt die Studie jedoch auch, dass Benachteiligungen am Arbeitsplatz weiter existieren. Mitglieder, die einen Migrationshintergrund haben und in Deutschland geboren sind, haben zwar durchschnittlich häufiger einen besseren Abschluss als solche ohne einen Migrationshintergrund. Sie sind aber seltener in Angestelltenpositionen anzutreffen und arbeiten nach eigenen Angaben häufiger in Jobs, die eigentlich eine niedrigere Qualifikation erfordern. Der Zusammenhang von Diskriminierungserfahrungen, Biografien und Kämpfen um Partizipation ist noch zu wenig erforscht. Wir möchten demnächst weiter untersuchen, wie all das miteinander zusammenhängt und welche Rolle Gewerkschaften dabei spielen.
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