Unter Wissenschaftlern ist es in den vergangenen Jahren beim Thema Mehrsprachigkeit zu einer Auseinandersetzung gekommen – der sogenannten Bilingualismus-Debatte: Auf der einen Seite steht etwa der Mannheimer Sozialwissenschaftler Hartmut Esser. Er widerspricht der These, dass Zweisprachigkeit bei Einwandererkindern etwas Positives sei und die Förderung ihrer Muttersprache kognitive Fähigkeiten erweitere und helfe, besser Deutsch zu lernen. Für diese Annahmen sieht Esser keine empirischen Belege. Deshalb fordert er, die begrenzten Mittel allein in die Deutschförderung zu investieren.
Für Bildungsforscher Haci-Halil Uslucan birgt Zweisprachigkeit hingegen viele Entwicklungschancen. Sie verbessere die kognitiven Fähigkeiten der Kinder durchaus und sei darüber hinaus ein „Reichtum für die Gesellschaft“. Er plädiert aber dafür, dass sich die Eltern stärker in ihrer eigenen Muttersprache bilden, um ihre Kinder besser fördern zu können. „Man kann nicht davon ausgehen, dass die hier aufgewachsenen Eltern so fit sind, dass sie etwa Orhan Pamuk im Original lesen können“, sagt Uslucan.
"Einsprachigkeit ist eher die Ausnahme"
Sekundiert wird Uslucan unter anderem von Ingrid Gogolin, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Hamburg. Sie hält Mehrsprachigkeit ebenfalls für etwas Positives und veröffentlichte 2010 gemeinsam mit anderen Forschern eine kritische Stellungnahme zum Vorwurf der sogenannten "Doppelten Halbsprachigkeit". Der Begriff unterstellt, dass Kinder, die mit zwei Sprachen aufwachsen, keine davon richtig beherrschen. Für die Autoren steht fest, dass diese Annahme falsch ist. Weltweit wachse die Mehrheit der Menschen heute mit mehreren Sprachen auf, Einsprachigkeit sei eher die Ausnahme als die Regel. Ihre Mehrsprachigkeit mache Kinder „kommunikativ versierter und flexibler“ und könne das Sprachenlernen erleichtern.
Den Forschern zufolge werde die eine Sprache häufig im familiären und die andere mehr im öffentlichen Raum verwendet. Gogolin unterscheidet zwischen einer eher einfach strukturierten, konkreten und bildhaften „Alltagssprache“ und der „Bildungssprache“, die komplexer gebaut, oft abstrakt und fachlich ist. „Die Regeln, die für die Bildungssprache gelten, sind mehr vom schriftlichen Sprachgebrauch abgeleitet als vom mündlichen“, sagt Gogolin.
Umstritten ist hinsichtlich der Zweisprachigkeit auch, in welcher Reihenfolge die Sprachen am besten gelernt werden sollten. Während ein Lager der Meinung ist, dass Kinder zunächst Deutsch lernen sollten, empfiehlt etwa der deutsche Bundesverband für Logopädie, dass Eltern in der Sprache zu ihrem Kind sprechen, die sie am besten beherrschen – auch wenn der Sohn oder die Tochter zum Zeitpunkt des Kindergarteneintritts dann noch kein Deutsch spricht. Bei einer normalen sprachlichen Entwicklung in ihrer Muttersprache werde es in der Regel keine Probleme mit der Zweitsprache geben.
Die Rolle der Schule
In der Forschung unumstritten ist mittlerweile hingegen, dass es Kinder nicht grundsätzlich überfordert, zwei Sprachen gleichzeitig zu erlernen. Diskutiert wird lediglich die Frage, wie sie dabei in Bildungseinrichtungen gefördert werden sollen.
Die Schule müsse den Kindern die Regeln der Bildungssprache nahebringen, sagt Gogolin. Kinder aus sehr belesenen Elternhäusern würden in der Famlie beim Erwerb der Bildungssprache zwar gut unterstützt. Doch alle anderen – ob nun ein- oder mehrsprachig aufwachsend – seien auf die Schule angewiesen. "Mehrsprachige Kinder benötigen eine sehr lange systematische Deutschförderung in der Kita und in der Schule". Allerdings seien Lehrer und Erzieher noch längst nicht ausreichend auf diese Aufgabe vorbereitet.
Und die Wissenschaftler betonen: Es gibt noch viele Forschungslücken. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) hat bereits in seinem Jahresgutachten 2010 darauf hingewiesen, dass ein erheblicher Forschungsbedarf zur Frage besteht, wie sich eine zweisprachige Erziehung auf Einwandererkinder auswirkt. Außerdem kritisieren die Experten, dass die vorschulischen Sprachstandserhebungen sich in Verfahren und Messmethode zu stark unterscheiden, um einzelne Bundesländer miteinander vergleichen zu können.
Diskussionen auch in Österreich
Auch im Nachbarland Österreich wird über die richtige Methode zur Förderung mehrsprachiger Kinder diskutiert. Dort allerdings recht rigoros unter der Frage: "Keine Einschulung ohne Deutschkenntnisse?". Konkret geht es um eine Regelung, die in Wien seit 2008 praktiziert wird: Kinder mit geringen Deutschkenntnissen werden nicht regulär eingeschult, sondern müssen zunächst die Vorschule besuchen. Österreichs Integrationsstaatssekretär will die Regelung nun auf ganz Österreich ausweiten. Experten kritisieren das Modell – es komme einer strukturellen Diskriminierung gleich und widerspreche dem Schulgesetz. Außerdem sei die sprachliche Förderung in diesen Vorschulklassen nicht gewährleistet.
Eine positive Nachricht für Deutschland hat die letzte IGLU-Studie gebracht, die im Dezember 2012 vorgestellt wurde: Entgegen der landläufigen Meinung gaben nur 0,8 Prozent der befragten Kinder an, zu Hause nie Deutsch zu sprechen, 19 Prozent manchmal, der Rest immer oder fast immer.
Gute Sprache, schlechte Sprache?
Beim Thema Sprache kommt ein weiterer Aspekt dazu, der eine emotionale Komponente in die Debatte bringt. Einige Einwanderergruppen machen die Erfahrung, dass ihre Umgebung es eher als Makel empfindet, wenn ihre Kinder die Muttersprache sprechen, etwa Türkisch, Arabisch oder auch slawische Sprachen. Im Unterschied zu Französisch, Englisch oder Spanisch werden diese bislang nicht als Bereicherung, sondern als Zugehörigkeitsmerkmal zu einer Problemgruppe betrachtet.
Diesen Eindruck hat 2006 auch die Diskussion um die Deutschpflicht an der Herbert-Hoover-Sekundarschule in Berlin-Wedding bestätigt. Die Vereinigung türkischer LehrerInnen und ErzieherInnen in Berlin und Brandenburg (TÜLEB) nannte diese Praxis eine Grundrechtsverletzung: „Ein Verbot der eigenen Muttersprache – außerhalb des Unterrichts – hat eine politische Dimension, die weit über die Bildungspolitik hinausgeht.“
Für Diskussionen sorgte im August 2012 auch die Lenau-Grundschule in Berlin-Kreuzberg. Auf Drängen von Eltern ohne Migrationshintergrund hin hatte die Schulleitung eine eigene Klasse für ihre Kinder eingerichtet. Einer anderen Klasse wurden hingegen vornehmlich Schüler aus Einwandererfamilien zugeteilt – was wiederum für Proteste der Eltern mit Migrationshintergrund sorgte, die sich gegen diese Trennung nach Herkunft zur Wehr setzten.
Von Rita Nikolow
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