Rund 6.000 Sprachen zählt die UNESCO auf der ganzen Welt – die meisten davon sind regionale Sprachen. Mehr als ein Drittel von ihnen sei gefährdet, rund 650 seien sogar akut vom Aussterben bedroht. Um solche Sprachen zu schützen und zu bewahren erklärte die UNESCO den 21. Februar zum „Tag der Muttersprache“.
Doch welche "Muttersprachen" sind damit gemeint? Die UNESCO und auch die „Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen" zielen dabei auf die offiziell anerkannten Mehrheits- und Minderheitensprachen ab, die auf einem Staatsterritorium gesprochen werden. Mehrheitssprachen sind dabei in der Regel die Sprachen, in denen das gesamte öffentliche Leben gestaltet wird. In manchen Staaten – wie etwa der Schweiz oder Belgien – erfüllen verschiedene Sprachen diese Funktion in jeweils eigenen Territorien.
Minderheitensprachen sind ebenfalls anerkannt, etwa in Landesverfassungen. Gemeint sind hier jedoch lediglich „geschichtlich gewachsenene“ Regional- oder Minderheitensprachen. In Deutschland gibt es sieben solcher anerkannten Minderheitensprachen – wie etwa das Sorbische in Sachsen und Brandenburg, friesische Sprachen entlang der Nordseeküste und Dänisch an der deutsch-dänischen Grenze. Die „geschichtlich gewachsenen“ oder „herkömmlichen“ Sprachen genießen laut „Europäischer Charta der Regional- und Minderheitensprachen“ ähnliche Rechte wie die Mehrheitssprachen, aber in der Regel in einem kleineren Gebiet. „Sprachen von Zuwanderern“ fallen ausdrücklich nicht darunter.
Sprachen von Migranten sind nicht immer willkommen
Es gibt aber auch eine andere Sicht auf Sprachenvielfalt und damit auf die Funktion und Bedeutung von „Muttersprachen“. Diese zweite Sicht hängt mit der weltweit zunehmenden Migration zusammen. Menschen, die in ein anderes Land wandern, treffen dort meist auf für sie neue Sprachen. Ihre Herkunftssprachen aber haben sie „im Gepäck“. Daher wächst in vielen Regionen weltweit die Zahl der Sprachen, die benutzt werden.
Prof. Dr. INGRID GOGOLIN ist Erziehungswissen-schaftlerin an der Universität Hamburg. Sie war unter anderem Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Erziehungs-wissenschaft. Derzeit forscht sie mit ihrem Team "Diversity in Education Research"(DiVER) über Folgen der Migration für Bildung und Erziehung. Ihr Schwerpunkt liegt auf Mehrsprachigkeit und Sprachentwicklung.
Diese Sprachen sind jedoch nicht immer willkommen, denn sie stellen das Selbstverständnis in Frage, dass es in einer Region eine Sprache gibt, die als „Muttersprache“ aller Bewohner fungiert – mit möglichen Ausnahmen für Minderheitensprachen. Während es in klassischen Einwanderungsländern wie Australien oder Kanada selbstverständlich ist, auch die durch Migration entstandene Sprachenvielfalt anzuerkennen, sind europäische Staaten davon weit entfernt. Zu den Zielen der „Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen“ zählt beispielsweise, dass Kinder Unterricht in der Minderheitensprache erhalten, wenn die Familien dies wünschen. Für die Kinder, die „Migrantensprachen“ sprechen, gilt dies nicht.
Es gibt also eine Hierarchie der „Muttersprachen“, auch in Deutschland. Mit höchstem Wert und umfassenden Berechtigungen versehen ist die allgemeine Verständigungssprache Deutsch. Etwas geringer wertgeschätzt und geschützt werden die „Muttersprachen“, die den anerkannten Status der Minderheitensprache besitzen. Ohne Schutz und Unterstützung, und vielfach als bedrohlich für die traditionelle „Sprachenordnung“ aufgefasst, bleiben die mitgebrachten Sprachen der Migranten.
Das hat Folgen. Zum einen wissen wir nur wenig darüber, wie groß die Sprachenvielfalt in Deutschland überhaupt ist. In Staaten wie Australien gibt es dazu offizielle Daten. Städte wie Sydney oder Melbourne (mit gezählten 250 bzw. 251 Sprachen) treten in einen regelrechten Wettbewerb darüber an, wo mehr Sprachen gesprochen werden.
Geringe gesellschaftliche und politische Anerkennung
In Deutschland und anderen europäischen Staaten hingegen gibt es meist keine offiziellen Zählungen, sondern lediglich wissenschaftliche Untersuchungen zur Anzahl der Sprachen. So wurde sie etwa in London auf 230 geschätzt, in Hamburg auf rund 120 – und das ist mit ziemlicher Sicherheit unterschätzt.
Dass nicht gezählt wird, ist ein Ausdruck der geringen gesellschaftlichen und politischen Anerkennung von Sprachenvielfalt – und zwar unabhängig davon, aus welcher Region die Sprecher stammen. So beginnen einige deutsche Schulbehörden trotz der schon lange immer heterogener werdenden Schülerschaft gerade erst damit, sich mit der wachsenden sprachlichen Vielfalt in den Klassenzimmern auseinanderzusetzen. Politiker und Arbeitsmarktexperten werden nicht müde, die Bedeutung und den Gewinn von Mehrsprachigkeit und „Sprachenkenntnissen“ zu betonen. Aber dies bezieht sich offensichtlich auf ausgewählte Sprachen, vor allem auf solche, die traditionell als Fremdsprachen anerkannt sind.
Welche Folgen die Nicht-Anerkennung von Sprachen, die Kinder oder Jugendliche aus ihrer Familie mitbringen, auf die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Identität der Betroffenen hat, ist kaum geklärt. Fest steht hingegen, dass positive Verstärkung und Motivation wichtige Voraussetzungen dafür sind, dass Kinder erfolgreiche Lerner werden. Was also kann man erwarten, wenn ein Teil der sprachlichen Erfahrungen und Fähigkeiten von Kindern – und damit ein Teil ihrer alltäglichen Lebenspraxis – konsequent zurückgewiesen und geringgeschätzt wird? Wenn Kinder erfahren, dass Sprachen wie Türkisch oder Arabisch weder auf dem Schulhof noch im Klassenzimmer gesprochen werden sollen, obwohl (oder gerade weil) dies für viele von ihnen „Muttersprachen“ sind?
Spezielle Sprachkenntnisse erhöhen die Berufschancen
Eine Unterscheidung in „wertvollere“ und „weniger wertvolle“ Sprachen ist auch aus ökonomischer Sicht kaum nachvollziehbar. In vielen Unternehmen und Berufen werden Experten mit speziellen Sprachkenntnissen dringend gebraucht. Das gilt für das Inland – man denke etwa an Ärzte, Anwälte, Altenpfleger oder Polizisten mit Türkisch- oder Arabischkenntnissen – ebenso wie für Firmen mit geschäftlichen Kontakten ins Ausland. Allein in der Türkei gibt es mittlerweile rund 5.800 deutsche Unternehmen oder Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner des Landes. Mitarbeiter mit Kenntnissen beider Landessprachen sind hochbegehrt.
Zwar werden wissenschaftliche Kontroversen darüber geführt, ob Zwei- oder Mehrsprachigkeit im individuellen Fall nützlich oder schädlich ist – beispielsweise für den Bildungserfolg. Unumstritten aber ist, dass das Aufwachsen und Leben in mehr als einer Sprache ein hohes Potenzial für die Entwicklung von allgemeinen geistigen und sprachlichen Fähigkeiten mit sich bringt.
Der „Tag der Muttersprache“ ist eine gute Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass es keinen vernünftigen Grund dafür gibt, die Muttersprachen der einen als schützenswert und kulturell bedeutsam zu feiern und die der anderen als Bildungs- und Integrationshindernis zu etikettieren. Vielmehr sollte die Sprachenvielfalt in Deutschland der Ausgangspunkt sein, um innovative Konzepte zu entwickeln, die sowohl der gemeinsamen Verständigungssprache als auch der Pflege und Förderung von Sprachenvielfalt gerecht werden.
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