MEDIENDIENST: Am 30. August 2024 ist vom Flughafen Leipzig/Halle ein Abschiebeflug nach Afghanistan gestartet. Das ist die erste Abschiebung nach Afghanistan seit der Machtübernahme durch die Taliban 2021. Kontakte zum Taliban-Regime soll es laut Medienberichten nicht gegeben haben. Ist eine derartige Abschiebung im Einklang mit dem internationalen Asyl- und Völkerrecht?
Prof. Dr. Winfried Kluth: Prinzipiell: Vor jeder Rückführung werden Abschiebungshindernisse sehr genau geprüft. Alle ausreisepflichtigen Personen haben außerdem Anspruch auf Rechtsschutz. Nach dem aktuellen Wissensstand können wir nicht sagen, dass diese Abschiebung gegen geltendes Asyl- und Völkerrecht verstößt.
Deutschland muss vorher prüfen, ob den ausreisepflichtigen Personen im Herkunftsland womöglich eine Gefahr droht. Wie soll das funktionieren, wenn die Bundesregierung die De-facto-Regierung der Taliban in Afghanistan politisch nicht anerkennt?
Deutschland muss immer prüfen, ob ausreisepflichtigen Personen bei einer Abschiebung Verfolgung, Folter oder die Todestrafe droht beziehungsweise eine "erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht". Das ist in unserem Aufenthaltsgesetz (§60) festgeschrieben und bezieht sich auf Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 33) sowie auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK Artikel 3). Das gilt für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge. Es gilt aber auch für ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerberinnen und -bewerber. Sowohl das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als auch die Verwaltungsgerichte prüfen, ob es Gründe gibt, die für ein Abschiebungsverbot sprechen. Dafür gibt es sogenannte Gefährdungslage-Einschätzungen, die auf Lageberichten vom Auswärtigen Amt und von internationalen Organisationen basieren. In Bezug auf Afghanistan kamen einige Gerichte zur Einschätzung, dass – obwohl die Sicherheitslage weiterhin kritisch ist – nicht allen Personen eine erhebliche Gefahr droht.
Prof. Dr. Winfried Kluth ist Professor für für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung (DGG), Mitglied im Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) und Mitherausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift für Ausländerrecht und -politik (ZAR).
Können Abschiebungen nach Afghanistan denn auch ohne Beteiligung der Taliban vollzogen werden?
Wenn ausreisepflichtige Personen im Besitz von Reisedokumenten sind, ist es nicht nötig, dass der Aufnahmestaat bei der Abschhiebung aktiv kooperiert. Freiwillige Rückreisen finden auch ohne Beteiligung der Aufnahmestaaten statt. Aus den oben genannten Gründen muss Deutschland aber auch prüfen, ob einer Person etwa im Herkunftstaat eine Haftstrafe droht. Da muss es einen Kontakt zum Herkunftsstaat geben. Im Fall von Afghanistan scheint es im Moment unmöglich zu sein, zu prüfen, was mit den rückkehrenden Personen passiert.
Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten wiederholt die Möglichkeit von Abschiebungen über andere Drittstaaten erwähnt, die an Afghanistan grenzen – wie etwa Usbekistan. Wäre das rechtlich möglich?
Auch bei Abschiebungen in andere Drittstaaten gilt das sogenannte Non-Refoulment-Prinzip. Das heißt: Es muss sichergestellt werden, dass die ausreisepflichtige Person nicht nicht von dort aus in einen anderen Staat abgeschoben wird, in dem ihr eine Gefahr für Leib und Leben droht. Wenn Afghaninnen und Afghanen nach Usbekistan überstellt werden, muss also trotzdem geprüft werden, ob ihnen bei einer weiteren Abschiebung nach Afghanistan Verfolgung oder Folter droht.
Afghan*innen, deren Asylanträge vom BAMF inhaltlich geprüft wurden, haben in 96 Prozent der Fälle Schutz bekommen. Dennoch haben einige Oberverwaltungsgerichte festgestellt, dass die Gefährdungslage in Afghanistan kein pauschales Abschiebungsverbot rechtfertigt. Es herrscht also eine Debatte darüber, wie sicher das Land ist. Gilt diese Sammelabschiebung als Zeichen, dass Deutschland Afghanistan als sicher sieht?
Nein. Sowohl das BAMF als auch die Gerichte sind unabhängige Instanzen, deren Entscheidungen auf den verfügbaren Informationsquellen über die Situation im Land basieren. Bislang hat es auch keine entsprechende Stellungnahme des Bundesverwaltungsgerichts gegeben. Die Abschiebung ändert nichts an der Entscheidungspraxis.
Es heißt immer wieder, dass nur Straftäter und Gefährder nach Afghanistan abgeschoben werden sollen. Sollte es künftig die Möglichkeit geben, ausreisepflichtige Afghan*innen abzuschieben, würde es unterschiedliche Regeln für Straftäter und Nicht-Straftäter geben?
Nein. Das gehört eher zum Bereich der politischen Kommunikation. Abschieberegeln gelten nicht nur für Straftäter. Wenn es keine Abschiebehindernisse beziehungsweise keine Gründe gibt, die für ein Abschiebeverbot sprechen, müssen ausreisepflichtige Personen das Land verlassen. Die Ausländerbehörden können zwar die Abschiebungen von Straftätern priorisieren, aber im Prinzip müssten alle ausreisepflichtigen Afghaninnen und Afghanen ebenfalls abgeschoben werden.
Interview: Fabio Ghelli
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