MEDIENDIENST: Haben die Black-Lives-Matter-Proteste im Sommer das Bewusstsein unter Schüler*innen für Rassismus gestärkt? An den Protesten haben sehr viele jungen Menschen teilgenommen.
Saraya Gomis: Meine Erfahrung als Lehrerin ist: Das Bewusstsein war unter Schüler*innen schon vorher hoch. Sie interessieren sich sehr für das Thema, nicht erst seit den Protesten im Sommer. Es ist also nicht ein völlig neues Bewusstsein unter Schüler*innen entstanden. Aber es haben sich neue Initiativen gegründet. Wie bei den Klimaprotesten sind Schüler*innen sehr aktiv gewesen.
Dennoch werden immer wieder rassistische Vorfälle an Schulen bekannt, auch zwischen Schüler*innen.
Häufig fokussiert sich die Debatte auf die Schüler*innen, die diskriminieren. Und klar, das kommt vor. Aber das Problem von Rassismus an Schulen ist sehr vielschichtig. Dazu gehören Abwertungen von Lehrer*innen, problematische Lehrmittel oder Aufgabenstellungen. Meine Erfahrung ist, dass viele Schüler*innen einschreiten, wenn jemand in ihrer Klasse diskriminiert wird.
Inwiefern?
Als Lehrerin habe ich gemeinsam mit meinen Klassen Verhaltensrahmen festgehalten. Darin haben wir vereinbart, was wir tun wollen, wenn es zu Diskriminierungen kommt. Meine Schüler*innen haben dann lautstark eingefordert, dass alle die Regeln einhalten. Sie haben auch mich darauf hingewiesen, wenn ich mich diskriminierend verhalten habe.
Können Sie ein Beispiel nennen?
In Lehrmaterialien kommen immer noch diskriminierende Texte, Bilder, Aufgabenstellungen oder Begriffe vor wie etwa das N-Wort. Ich hatte Klassen, die entschieden haben, das N-Wort auf Arbeitsblättern durchzustreichen. Andere Klassen haben es im Text belassen, es aber nicht vorgelesen. Wichtig war, dass wir im Unterricht unter anderem gelernt hatten, über Diskriminierungen zu sprechen. Basis ist eine diskriminierungskritische Bildung.
In der Lehrer*innenbildung ist Rassismuskritik aber kaum Thema. Wie schafft man es, dass Lehrer*innen mit Rassismus im Unterricht umgehen können?
Das lernt man natürlich nicht in einer dreistündigen Fortbildung. Es ist ein langer Prozess der Professionalisierung, der immer wieder aufgefrischt und weiterentwickelt werden muss. Es braucht unter anderem Wissen über Rassismus und dessen Wirkungen. Lehrer*innen müssen üben, damit umzugehen, das im Team zu besprechen und zu reflektieren. Ein wichtiger Schritt ist, Diskriminierung überhaupt zu erkennen. In manchen Fällen ist das einfach – etwa wenn jemand rassistische Begriffe verwendet. Bei Diskriminierung in Prozessen ist das schon schwerer.
Was wären solche Prozesse?
Ein Beispiel: Einstellungen von Lehrer*innen können auf Vorurteilen und Stereotypen basieren. Zum Beispiel wenn ich als Lehrerin davon ausgehe, dass eine bestimmte Gruppe von Schüler*innen "bildungsfern" ist. Das wirkt sich darauf aus, wie ich mit ihnen und ihren Eltern umgehe, und wie ich vor Kolleg*innen über sie spreche. Also etwa, wenn ich Schüler*innen dieser Gruppe von vornherein als problematisch betrachte und dann schneller eine Klassenkonferenz zu einem "Problemfall" einberufe. Da kann Diskriminierung stattfinden, ohne dass ich einmal einen rassistischen Begriff verwendet oder einen für mich greifbaren diskriminierenden Gedanken hatte.
SARAYA GOMIS ist beim Verein Each One Teach One (EOTO) aktiv. EOTO setzt sich für die Interessen Schwarzer, Afrikanischer und Afrodiasporischer Menschen in Deutschland und Europa ein. Das EOTO „Kompetenzzentrum Rassismus gegen Schwarze Menschen“ ist eine Bildungs- und Beratungseinrichtung mit dem Schwerpunkt auf Anti-Schwarzen Rassismus, Empowerment und Diskriminierungsprävention.
Und wie können Lehrer*innen das konkret erkennen?
Wichtig ist, und das gehört auch zur Professionalisierung: Lehrer*innen müssen lernen, ohne Angst über die Folgen rassistischer Handlungen oder Materialien zu sprechen. Sie müssen wissen, dass sie Fehler machen können und bereit sein, sie zu korrigieren. Lebenslanges Lernen sollte ein Standard sein. Es geht meist nicht darum, ob sie schlechte Lehrer*innen sind oder nicht. Es geht darum, aus den eigenen Fehlern zu lernen.
Führt das nicht eher zu Abwehrreaktionen?
Ja, häufig schon. Bei unseren Trainings versuchen wir, Lehrer*innen zu zeigen, dass es verschiedene Stufen gibt, wenn man sich mit Diskriminierungen auseinandersetzt. Eine davon ist die Abwehr. Viele haben erst mal den Impuls: "Hey, was soll das? Ich gebe mir doch immer so viel Mühe! Ich habe gestern Nacht bis ein Uhr gearbeitet!" Es ist wichtig, dass Lehrer*innen erkennen, wenn sie in einer Abwehr-Situation sind. Dann können sie leichter mit der Situation umgehen. Und die Vorteile sehen, die es für sie bringt, wenn sie sich mit Diskriminierung auseinandersetzen.
Die da wären?
Für Lehrer*innen ist das auch eine Burn-out-Prävention: Wenn ich weiß, wie ich bei Diskriminierung in meiner Klasse einschreiten kann, dann bin ich weniger gestresst, liege nachts nicht wach im Bett. Wissen über Diskriminierung erleichtert Lehrer*innen die Arbeit. Sie lernen, wann sie Sachen abgeben müssen. Wann sie sich an die Schulleitung wenden können, wann an die Schulaufsicht, wann an Beratungsstellen. Lösungen dürfen nicht an einer Lehrkraft hängen bleiben. Dafür müssen natürlich die Schulen und das Kollegium die Auseinandersetzung mit Rassismus unterstützen. Eine Schule kann sagen: Es ist Teil unseres Selbstverständnisses, dass Lehrer*innen wissen, wie sie rassistische und auch andere Diskriminierung erkennen und gegen diese vorgehen.
In Berlin wurde ja die Antidiskriminierungsbeauftragte beim Senat für Schulen geschaffen. Ihr Nachfolger hat das Amt niedergelegt, genau wie Sie zuvor. Er sagt, dass die Stelle nichts an strukturellen Problemen im Schulsystem ändere. Die Aufgabe sei schlichtweg zu groß, um sie alleine zu meistern. Was bräuchte es denn, um sie zu meistern?
Die Stelle in Berlin war ein Kompromiss – eigentlich gab es Forderungen nach einer Unabhängigen Beratungsstelle, die nicht weisungsgebunden ist, aber Durchgriffsrechte hat. Denn zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen werden in ihrer Arbeit häufig Grenzen gesetzt: Sie können Schulen anschreiben, die müssen aber nicht antworten, sie können um ein Gespräch bitten, jedoch muss die Schule das nicht akzeptieren. Jedoch bräuchten sie das, um die Betroffenen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte zu unterstützen. Es gibt auch Befürworter*innen für eine Doppelstruktur: Mit einer Unabhängigen Stelle und einer Stelle, die Dinge im System anregen und disziplinarrechtlich wirken kann.
Interview: Andrea Pürckhauer
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