Mediendienst: Weshalb hat Deutschland ein Anwerbeabkommen mit dem diktatorisch regierten Portugal geschlossen?
Christoph Rass: Deutschland war Mitte der 1960er Jahre noch immer dringend auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen. Die Bundesanstalt für Arbeit und die portugiesische Junta hatten ähnliche Ziele: Die Deutschen wollten keine Einwanderer, sondern "Gastarbeiter", die nach ein paar Jahren in ihre Heimat zurückkehren sollten. Und Portugals Präsident Antonio de Oliveira Salazar wollte seine Landsleute an ihr Heimatland binden, doch sein Land lag wirtschaftlich am Boden und benötigte zusätzliche Einnahmen. Damit die Portugiesen nicht "zu lange" in Deutschland blieben, wurden fast ausschließlich junge Männer entsandt, die Familien mussten zunächst in Portugal bleiben.
Wie beschreiben Angehörige der ersten Einwanderergeneration ihre Ankunft in Deutschland?
Im Grunde war es ein Sprung ins kalte Wasser. Die meisten hatten keine Vorstellung von Deutschland. Der Druck der Diktatur und die Ankunft in einem fremden Land, in dem eine völlig unbekannte Sprache gesprochen wurde, bedeutete eine große Belastung. Das zeigt übrigens auch das Beispiel von Armando Rodrigues de Sá, der am Bahnhof in Köln-Deutz als "millionster Gastarbeiter" in Deutschland begrüßt wurde: Der junge Mann, der kein Wort verstand, wurde bei seiner Ankunft aus dem Zug geholt und fragte sich, ob man ihn gerade verhaftete.
Hatten die portugiesischen Gastarbeiter Schwierigkeiten, in der deutschen Gesellschaft anzukommen?
Nein, damit hatten die Portugiesen und übrigens auch die Spanier weniger Probleme als andere Zuwanderer. Sie profitierten sozusagen von einem kulturalistischen Bonus, der es ihnen erleichtert hat, Anschluss in der Gesellschaft zu finden. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch die Selbstorganisation: Viele Portugiesen sind in Vereine eingetreten oder haben selbst welche gegründet.
Welche Faktoren haben die Integration der Portugiesen noch beschleunigt?
Eine Grundlage für Integration ist eine gewisse Akzeptanz von Zuwanderern. In Europa wurden etwa Migranten aus christlich geprägten Staaten meist schneller akzeptiert, während gegenüber anderen Religionen erst Vorbehalte und Vorurteile abgebaut werden müssen. Portugiesen konnten davon in katholisch geprägten Regionen profitieren, muslimische Zuwanderer, das ist die Schattenseite, erfahren vielerorts dagegen eine an ihrem Glauben ansetzende Stigmatisierung. Ein weiterer Integrationsbeschleuniger für die Portugiesen war ironischerweise der von der portugiesischen Regierung zunächst verbotene Familiennachzug, der zu einer bedeutenden Zahl deutsch-portugiesischer Familien geführt hat. Allerdings bedarf es durchaus noch weiterer Forschung zu Migration und Integration von Portugiesen in diesem Zeitraum.
Wie hat sich das Bildungsniveau entwickelt?
Der Spracherwerb war für die erste Generation eine Herausforderung: Die deutsche Sprache ist schwer, der Sprachunterricht für die portugiesischen Einwanderer war zunächst nur rudimentär – schließlich sollten diese Menschen ja nicht zu lange in Deutschland bleiben. Die zweite und dritte Generation ist schulisch sehr erfolgreich.
Gibt es Regionen in Deutschland, in denen sich besonders viele Portugiesen niedergelassen haben?
Schwerpunktbildungen sind kaum erkennbar. Die vergleichsweise kleine Gruppe der portugiesischen Einwanderer und ihrer Nachkommen ist in Deutschland weit verstreut. Das hängt auch damit zusammen, dass das Anwerbeabkommen namentliche Anforderungen erst einmal nicht erlaubt hat. Dies hat verhindert, dass portugiesische Arbeiter etwa ihre Nachbarn oder Freunde als mögliche Kollegen empfehlen konnten.
In Deutschland leben heute rund 120.000 Portugiesen. Wie hoch war ihre Zahl zu Spitzenzeiten?
Viel höher war sie eigentlich nie, denn es gab bei den Portugiesen – ebenso wie bei den Spaniern – starke Rückwanderungsbewegungen. Als zwischen 1967 und dem Anwerbestopp 1973 auch Familien nachziehen durften, stieg ihre Zahl auf bis zu 125.000 Menschen. Viele von ihnen sind nach der Nelkenrevolution nach Portugal zurückgekehrt. Mit dem EU-Beitritt im Jahr 1986 ist der Zuzug nach Deutschland dann wieder leicht angestiegen.
Gibt es heute in Portugal eine Debatte dazu, dass erneut Portugiesen als „Gastarbeiter“ nach Deutschland reisen?
Tatsächlich hat die Zuwanderung vor allem jüngerer Portugiesen nach Westeuropa – und insbesondere nach Deutschland – in den letzten Jahren wieder zugenommen. Doch auch wenn die Presse in Deutschland und Portugal viel darüber berichtet: Aus Portugal, Spanien und Griechenland wandern keine Massen ein, statistisch hat ihre Zahl nur eine minimale Auswirkung.
Können die neuen Einwanderer etwas von den ersten Gastarbeitern aus den 60er Jahren lernen?
Es mag eine Rolle spielen, dass eine gewisse Mobilität lange die portugiesische Identität geprägt hat. Solche historischen und kulturellen Erfahrungen können quasi reaktiviert werden, wenn eine neue Generation unter dem Druck einer Krise Lebensentscheidungen trifft. Allerdings unterscheiden sich die Migranten der Gegenwart von den „Gastarbeitern“ der Wirtschaftswunderjahre. Damals rief der deutsche Arbeitsmarkt nach gering qualifizierten Arbeitskräften für Gewerbe, Industrie und Dienstleistungssektor. Heute kommen aus den gleichen Staaten vor allem gut ausgebildete Fachkräfte sowie Akademikerinnen und Akademiker.
Dr. Christoph Rass verwaltet seit 2011 die Professur für Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück. Er ist Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). In einer Monografie hat er sich mit bilateralen Wanderungsverträgen in Europa zwischen 1919 und 1974 beschäftigt.
Interview: Rita Nikolow
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