Mediendienst: Im November 1973 kündigte das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung den Anwerbestopp für alle ausländischen Arbeitskräfte an. Wie kam es dazu?
Jochen Oltmer: Nach dem Wirtschaftswunder der 50er und Anfang der 60er Jahre lagen die Wachstumsraten in Deutschland zwischen 1966 und 67 bei null. Erwartungsgemäß ging auch die Zahl der beschäftigten Zuwanderer deutlich zurück. Mit dem Aufschwung nach der kurzen Krise wuchs die Zahl der ausländischen Beschäftigten wieder stark an. Gleichzeitig stellten die deutschen Behörden fest, dass sich die Aufenthaltsdauer ausländischer Arbeitskräfte immer weiter ausdehnte und immer häufiger Familien nachzogen. Da sagten sie sich: Wir haben ein Problem.
Was für ein Problem?
Die deutsche Gesellschaft war schlicht nicht darauf vorbereitet, diese Menschen mit ihren Familien langfristig aufzunehmen. Denn kaum jemand hatte bis zu diesem Zeitpunkt darüber nachgedacht, wo zum Beispiel die Kinder der Einwanderer zur Schule gehen sollten. Ebenso hatte sich niemand darum gekümmert, wo sie wohnen sollten. Viele zugewanderte Arbeitskräfte lebten damals noch in Unternehmenswohnheimen oder anderen prekären Unterkünften. Außerdem hatten die ausländischen Arbeitsmigranten bis zu dem Zeitpunkt nur in die Sozialkassen eingezahlt. Da sie jung waren und befristet eingewandert, dachte niemand, dass sie irgendwann Geld aus den Sozialkassen beziehen würden.
In der Anweisung, mit der Arbeitsminister Arendt den Anwerbestopp ankündigte, heißt es, die Entscheidung sei eine Konsequenz der Ölkrise und deren Einfluss auf die Beschäftigungssituation...
Prof. Dr. JOCHEN OLTMER lehrt Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und ist dort seit 1997 Vorstandsmitglied des "Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien" (IMIS). Zuletzt erschien von ihm 2017 das Buch "Migration: Geschichte und Zukunft der Gegenwart".
Die Ölkrise war der Anlass, aber nicht der Hauptgrund für den Anwerbestopp. In den späten 60er Jahren gab es bereits in allen europäischen Einwanderungsländern eine intensive Debatte über die Frage, welche Kosten die Einwanderung für die Gesellschaft verursacht.
Wie reagierten die ausländischen Arbeiter in Deutschland auf den Anwerbestopp?
Bis zu diesem Zeitpunkt war die Fluktuation der ausländischen Arbeitskräfte enorm hoch. Es ist bekannt, dass zwischen 1955 und 1973 etwa 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte in die Bundesrepublik einwanderten. Mehr als 11 Millionen sind aber in derselben Zeit wieder abgewandert. Eine Konsequenz aus dem Anwerbestopp war, dass diese Fluktuation plötzlich erstarrte. Die zugewanderten Arbeiter wussten: Wenn ich jetzt die Bundesrepublik verlasse, darf ich nie wieder zurück.
Wie hat die Wirtschaft darauf reagiert?
In einigen Branchen wurde der Anwerbestopp sehr kritisch gesehen. Vertreter der Automobilindustrie zum Beispiel gingen 1973 zum Arbeitsministerium und baten darum, wieder Ausländer ins Land holen zu dürfen. Doch gleichzeitig brach die Wirtschaft weiter ein. Von der Strukturkrise waren vor allem die Stahl- und die Textilindustrie betroffen, die zuvor am meisten ausländische Arbeitskräfte beschäftigt hatten.
Der Anwerbestopp gilt nach der Anweisung „bis auf Widerruf“. Heißt das, er gilt noch bis heute?
Ja. Der Anwerbestopp gilt de facto immer noch. Deshalb gab es zum Beispiel die „Anwerbestoppausnahmeverordnung“, die in Ausnahmefällen die Beschäftigung bestimmter Gruppen ermöglichte.
Kann man sagen, dass vor 1973 Einwanderung nach Deutschland nach Plan verlief?
In gewisser Weise ja. Bis zum Anwerbestopp gab es eine gesteuerte Einwanderung, die einen Bedarf deckte. Nach 1973 war es dem Zufall überlassen, wer nach Deutschland kam. Die Menschen kamen vor allem durch Familiennachzüge und Asylverfahren, aber auch durch illegale Zuwanderung.
Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern hat das Bundesministerium für Arbeit nun erneut Vereinbarungen wie mit Spanien oder Drittstaaten unterschrieben, um Nachwuchsarbeitskräfte in Deutschland auszubilden. Wiederholt sich die Geschichte?
Das Instrument der Anwerbeabkommen könnte in der Zukunft wieder an Bedeutung gewinnen. Die Tatsache, dass Europa und Deutschland mehr Zuwanderung brauchen, wird schon seit langem diskutiert. Diese Zuwanderung soll aber möglichst in klar geregelten Bahnen eingefügt werden. Die Umsetzung ist allerdings nur dann möglich, wenn man mit den Herkunftsländern klare Verträge schließt.
In einer Studie der OECD aus dem vergangenen Februar heißt es, der „Anwerbestopp mit Ausnahmen“ sei zu restriktiv. Denn legal wandern jährlich etwa 25.000 Arbeitsmigranten nach Deutschland ein. Stimmt das?
Die Studie der OECD deutet darauf hin, dass nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa verglichen mit den USA oder Kanada im Rückstand ist, wenn es darum geht qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben. Das hat sehr viel damit zu tun, dass sich in den frühen 1970er Jahren in den europäischen Gesellschaften ein tendenziell negatives Bild der Einwanderer eingeprägt hat. Denn zu dem Zeitpunkt hat man angefangen, Migration eindeutig als Belastung zu sehen. Seit den späten 70ern hat sich die Perspektive verbreitet, über Migration fast ausschließlich in Verbindung mit sozialen Problemen oder Kriminalität zu sprechen. Über die Vorteile der Einwanderung für die Zielländer wurde im Gegenteil seitdem sehr wenig gesprochen.
Heißt das, der Anwerbestopp hat bis heute Berührungsängste mit Migrationsthemen hinterlassen?
Die Vorstellung ist weit verbreitet, dass nur eine sesshafte Gesellschaft eine stabile Gesellschaft ist. Bis heute gilt immer noch die Überzeugung, dass ausschließlich eine streng geregelte Einwanderung harmlos ist. Schon in der Zeit des Anwerbestopps wurde uns allerdings klar, dass die Vorstellung, ausländische Arbeiter zu sich einzuladen, um sie dann ohne weiteres wieder loszuwerden, nicht zeitgemäß ist. Tatsache ist: Millionen Menschen sind in der Welt ununterbrochen unterwegs. Wir müssen akzeptieren, dass diese weltweite Migration sich nur sehr begrenzt in bestimmte Bahnen lenken lässt.
Wie soll sich die europäische Einwanderungspolitik weiterentwickeln?
In der Politik wie in den Medien wird das Thema Migration immer mit Hinweis auf eine Gefahr, eine Bedrohung diskutiert. Von Chancen ist sehr selten die Rede. Was Europa braucht, ist eine Einwanderungspolitik, die sich langfristige Ziele setzen kann. Anders gesagt: Wir müssen klar definieren, was wir im Bezug auf Migration wollen und diese Ziele klar und deutlich an die Bevölkerung vermitteln.
Interview: Fabio Ghelli
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