Warum wandern Menschen aus der Türkei nach Deutschland aus? Wie unterscheidet sich die jetzige von früheren Migrationsbewegungen? Warum verlassen gerade Wissenschaftler*innen die Türkei? Darüber sprachen Fachleute bei einem Online-Pressegespräch des MEDIENDIENSTES.
Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen die türkische Regierung im Juli 2016 hat sich die Migration zwischen Deutschland und der Türkei verändert: In den Jahren zuvor sind mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei gegangen als andersherum. Nach dem Putschversuch drehte sich dieses Verhältnis um. 2018 zogen rund 16.500 Personen mehr aus der Türkei nach Deutschland als umgekehrt.
Auch die Gründe, warum Menschen aus der Türkei nach Deutschland auswandern, haben sich verändert. Das berichtet Haci-Halil Uslucan, Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Früher sind türkische Staatsbürger*innen vor allem nach Deutschland ausgereist, um Arbeit zu suchen. Inzwischen sind die Gründe vielfältiger: Viele fliehen vor politischer Verfolgung, manche folgen ihren Familien und andere wünschen sich, ihren Beruf als Wissenschaftler*in frei ausüben zu können. Viele türkische Zuwander*innen der letzten Jahre weisen einen hohen Bildungsgrad auf, so Uslucan.
Wissenschaftler*innen berichten von Festnahmen und Verleumdungen
Der gescheiterte Putschversuch stellte unter anderem für Wissenschaftler*innen eine Zäsur dar. Die türkische Regierung schloss in Reaktion auf den Putschversuch zahlreiche Universitäten und entließ über 6.000 Wissenschaftler*innen, berichtet die Politikwissenschaftlerin Aysuda Kölemen. Das politische Klima sei in der Folge rauer geworden.
Kölemen unterzeichnete 2016 zusammen mit über Tausend türkischen Wissenschaftler*innen eine Petition für Frieden in den kurdischen Gebieten. Daraufhin wurde sie angeklagt. Kölemen reiste aus, sie arbeitet nun am Bard College Berlin. In Abwesenheit wurde sie zu einer 27-monatigen Haftstrafe verurteilt.
Kölemen beschreibt, dass die Unterzeichner*innen der Friedenspetition auch Verleumdungen ertragen mussten: Regierungsnahe Medien veröffentlichten die Namen und Fotos einiger Wissenschaftler*innen. Dies führte dazu, dass einige Morddrohungen erhielten. Kölemen berichtet außerdem von Selbstzensur: Aus Angst vor Schmähungen, Verhaftungen und Berufsverboten müssten sich Wissenschaftler*innen in der Türkei sehr genau überlegen, was sie veröffentlichen und was nicht.
Stipendienprogramme für politisch verfolgte Wissenschaftler*innen
Einige Wissenschaftler*innen haben in Deutschland Asyl beantragt. Ein Asylverfahren ist jedoch mit vielen Nachteilen verbunden, man darf zum Beispiel nicht mehr frei reisen. "Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen mobil sein, um sich etwa auf Konferenzen austauschen und vernetzen zu können", so Kader Konuk, Leiterin des Instituts für Turkistik an der Universität Duisburg-Essen.
Wissenschaftler*innen brauchen eine Alternative zum Asylverfahren. Kader Konuk gründete deshalb 2017 die "Akademie im Exil". Dieses Projekt unterstützt bislang 37 gefährdete Wissenschaftler*innen, davon 32 aus der Türkei. Auch bei anderen Förderprogrammen bewerben sich auffallend viele Wissenschaftler*innen aus der Türkei. So stammen laut Konuk 60 Prozent der Stipendiat*innen der "Philip-Schwartz-Initiative für gefährdete Forschende" aus der Türkei. Auch bei ähnlichen Programmen in den USA – den "Scholars at Risk" und dem "Scholar Rescue Fund" – komme derzeit die Mehrheit der Bewerbungen von türkischen Wissenschaftler*innen. Wichtig ist, so Konuk, die Stipendienprogramme auszubauen: Denn die verfügbaren Plätze reichen bei weitem nicht für die Zahl an Wissenschaftler*innen, deren Forschung und Lehre wegen politischer Verfolgung gefährdet sind.
Viele Menschen pendeln zwischen der Türkei und Deutschland
Auch viele Künstler*innen und Kulturschaffende sind in den letzten Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Unter ihnen Murat Sezgi, Gründer der deutsch-türkischen Konzertagentur 3dots und Leiter des XJAZZ-Festivals in Berlin. Ausschlaggebend für seine Entscheidung war ein Alkoholverbot in der Türkei, das 2011 eingeführt wurde. Seitdem dürfen Firmen, die Alkohol herstellen, keine Kulturveranstaltungen mehr sponsern. Auch der Alkoholausschank auf einem Festival, das Sezgi organisierte, wurde verboten. Das brachte ihn schließlich 2014 dazu, nach Berlin umzuziehen.
Die Debatte um Auswanderung und Rückkehr empfindet Sezgi als unnötig starr. Menschen zögen zwar nach Deutschland, gäben dadurch aber nicht ihre Bezüge in die Türkei auf. Viele würden zwischen den Ländern pendeln oder in einem Land wohnen und in dem anderen arbeiten. Auch Sezgi gehört dazu: Seit 2015 pendelt er zwischen Istanbul und Berlin und organisiert Veranstaltungen in beiden Städten.
Von Donata Hasselmann
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