Der Verfassungsschutz wurde 1950 als Reaktion auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gegründet. Seine primäre Aufgabe: Organisationen präventiv beobachten, wenn die Annahme besteht, sie könnten extremistische, verfassungswidrige Straftaten begehen. Gemeinsam mit den Landesbehörden sammelt das Bundesamt für Verfassungschutz (BfV) entsprechende Informationen.
Den Handlungsspielraum dafür regelt das Bundesverfassungsschutz-Gesetz: Darin heißt es, für die Informationsbeschaffung werden "tatsächliche Anhaltspunkte" vorausgesetzt, die auf eine "Anwendung von Gewalt" schließen lassen. So sorgt der Verfassungsschutzbericht, den der zuständige Bundesinnenminister und der Präsident der Behörde vorstellen, jedes Jahr für Aufsehen. Bei der Vorstellung des aktuellen Berichts warnte der Bundesinnenminister vor allem vor drei Entwicklungen:
- Zwar seien die Mitgliederzahlen in rechtsextremistischen Organisationen wie der NPD oder freien Neonazi-Kameradschaften leicht rückläufig (22.700 in 2013). Doch die Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten sei mit rund 9.600 gleich geblieben und die Zahl rassistischer (im Bericht: "fremdenfeindlicher") Gewalttaten ist um 20 Prozent gestiegen, von 393 auf 473. Vor allem erkennbar gestiegen seien (geplante) Übergriffe auf Asylbewerberheime und Stimmungsmache gegen Flüchtlinge.
- Auch bei Linksextremisten sei das "Personenpotenzial" leicht rückläufig (2013: 27.700 Personen) und die Zahl der Gewalttaten sei um 26 Prozent auf insgesamt 1.110 Fälle gestiegen. Dabei handle es sich vor allem um Gewalttaten gegenüber Rechtsextremisten, aber auch zunehmend gegenüber Beamten.
- Die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus bleibe "eine wesentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes". Das sogenannte "Islamismuspotenzial" sei durch die Anhänger salafistischer Bestrebungen in Deutschland gestiegen: von geschätzten 4.500 in 2012 auf 5.500 in 2013. Eine besondere Gefahr sehen Bundesinnenminister Thomas de Maizière und BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen in "Reisebewegungen von Jihadisten aus Deutschland nach Syrien".
Bei den Rückkehrern bestehe die Gefahr, dass sie Anschläge planen oder Mitglieder für terroristische Organisationen rekrutieren. "Aus der früher abstrakten Terrorgefahr wurde inzwischen eine konkrete", so der Minister bei der Veröffentlichung.
Wie groß ist die Gefahr durch islamistischen Terrorismus?
Der Verfassungsschutzbericht 2013 beziffert das "islamistische Personenpotenzial" mit 43.190 – das sind rund 600 Personen mehr als 2012. Die mit Abstand größte Gruppe in der Liste islamistischer Organisationen ist die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG), die mitgliederstärkste türkische Gruppierung in Deutschland. Mit 31.000 Mitgliedern stellt sie mehr als drei Viertel des Islamismuspotenzials dar. Ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist umstritten, da sie in Deutschland bislang nicht durch Gewalttaten aufgefallen ist.
Islamismusexperte Werner Schiffauer erklärte bei einem Experten-Gespräch des Mediendienstes, dass die Verfassungsschützer der Länder Hamburg und Bremen die Organisation nicht mehr in ihren Berichten aufführen. "Die Zählung aller Vereinsmitglieder der IGMG bläst das Islamismuspotenzial unnötig auf", sagt Schiffauer. Dadurch verhindere man, dass viele islamische Gemeinden mit ins Boot geholt werden, um gegen Radikalisierung vorzugehen. Islamexperte Jörn Thielmann erklärte, das gelte auch für Salafisten. Nur ein Bruchteil der ultrakonservativen Salafisten sei gewaltbereit. Dennoch würden auch Muslime ins Visier geraten, die keine Salafisten sind, sondern lediglich ähnliche äußere Merkmale aufweisen, wie zum Beispiel einen hennagefärbten Bart.
Beide Wissenschaftler kritisieren, wie der Verfassungsschutz zu seinen Einschätzungen kommt. Laut Werner Schiffauer basieren sie auf der Auswertung offener Quellen wie Zeitschriften, Flugblättern oder dem Internet sowie verdeckten Ermittlungen, Telefonüberwachungen oder dem Einsatz sogenannter V-Leute. Anhand dieser Informationen beurteile der Verfassungsschutz Organisationen nach einem Kategoriensystem, das auf alle extremistischen Strömungen angewendet werde.
Das Problem: Die Informationen seien nicht mehr als "bits and pieces" – "Fetzen und Stücke", so Schiffauer. Komplexe Diskussions- und Aushandlungsprozesse von Weltbildern innerhalb der Organisation berücksichtige er zumeist nicht. Das Beurteilungssystem führe vielmehr zu einem "Schubladen-Denken". Dem widerspricht der Verfassungsschutz nicht, sondern relativiert selbst auf seiner Website: Der Bericht "analysiert und bewertet maßgebliche Entwicklungen und Zusammenhänge", kann jedoch "keinen erschöpfenden Überblick geben".
Von Ferda Ataman und Lea Hoffmann
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